Um 9°C, teils anhaltender Regen

Berlins Innensenatorin verurteilt Straßenblockaden im Namen des Klimas Berlin ruft nur vier von zehn Millionen Euro für Opfer politischer Gewalt ab 454 Berliner Kurierfahrer hatten auf der Fahrt 2021 einen Unfall

Berlin ringt um eine nachvollziehbare Pandemie-Politik. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat vergangene Woche zwar das Motto „Kurs halten“ ausgegeben. Das ist aber – euphemistisch ausgedrückt – eine Überdehnung der Wahrheit. Tatsächlich ändert sich für den Einzelnen in diesen Tagen so viel wie lange nicht in dieser Pandemie. Auch der Berliner Senat wird deshalb heute einige Gewissheiten der letzten Monate über Bord werfen, um mal im scholzschen Seefahrer-Jargon zu bleiben. Wellenscheitel voraus!

Die Senatssitzung wollen Regierungschefin Franziska Giffey (SPD) und Co. heute nutzen, um einiges zu entwirren – und den Realitäten der rasanten, aber harmloseren Verbreitung der Omikron-Variante anzupassen. Auf Folgendes müssen Sie sich jetzt einstellen:

+ Auch in Berlin wird der Genesenenstatus wie vom Robert-Koch-Institut vorgeschrieben künftig auf drei Monate verkürzt. Bisher waren es sechs.

+ Die Anwesenheitsdokumentation (per App oder Zettel) in der Gastronomie und auf Veranstaltungen wird komplett abgeschafft. Als Kontaktperson muss man ohnehin nur noch in den seltensten Fällen in Quarantäne. Es überprüft ja auch keiner mehr.

+ Wer mit einem Schnelltest positiv getestet wird, muss künftig keinen PCR-Test mehr machen. Die Möglichkeit dazu soll es aber (nun doch) weiterhin für alle geben – mit entsprechend langen Wartezeiten.

+ Verschärft werden die Regeln für Friseure und Kosmetikstudios: Nur Geboosterte oder Genesene mit negativem Test erhalten künftig noch Zutritt.

Geimpftes Geschäft: Die 2G-Regel im Einzelhandel soll in Berlin weiterhin gelten. Rathauschefin Giffey hält Lockerungen, wie sie Handelsverbände und Unternehmen inzwischen lautstark fordern, für verfrüht. Berlins Regierende stellt Lockerungen erst für den Moment in Aussicht, wenn die Infektionszahlen sinken – das wird frühstens ab Mitte Februar erwartet. Der Berliner Handelsverband verweist dagegen auf Niedersachsen, Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland. Dort gilt die 2G-Regel im Einzelhandel schon nicht mehr. Das Berliner Verwaltungsgericht hatte den Ausschluss Ungeimpfter dagegen kürzlich noch als verhältnismäßig bezeichnet. Ihnen bleibt weiter nur das Internet – aber dort kennen sich viele ja ohnehin besonders gut aus.

Apropos Kurs halten: Franziska Giffey will zur Not-Not-Not auch infiziertes Krankenhauspersonal arbeiten lassen. „Wenn wir eine Situation haben, in der wirklich massiv Personal ausfällt und die gesundheitliche Versorgung in Notfällen in Frage steht, dann muss man sich darüber Gedanken machen“, sagte Giffey am Montag im „rbb“. „Wir sind da nicht, aber man kann in dieser Situation, in der wir gerade sind, nichts kategorisch ausschließen.“ Es gehe bei einer solchen Maßnahme aber „wirklich um den Not-Not-Notfall“, sagte sie. Wie sich der Not-Not-Notfall definiert, wird sich hoffentlich spätestens im Not-Notfall zeigen.
 

Nochmal Notfall: Zuvor hatte es schon eine gewisse Aufregung um Aussagen von Giffey gegeben, womöglich eine sogenannte „Arbeitsquarantäne“ für Mitarbeiter kritischer Infrastruktur einzuführen. Tatsächlich sind solche Maßnahmen nach einer Empfehlung des Robert-Koch-Instituts schon seit 2020 längst Standard. Professor Martin Voss, Soziologe und Leiter der Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität, erklärt dazu auf Checkpoint-Anfrage: „Maßnahmen wie die Arbeitsquarantäne sind schon lange vorgesehen und wurden auch schon vielfach angewandt. Sie gehören zum möglichen Maßnahmenkatalog für kritische Infrastrukturen und sind mittlerweile in deren Pandemiepläne fest eingeplant. Für Betreiber kritischer Infrastrukturen ist Planungssicherheit sehr wichtig. Jetzt an solchen Maßnahmen zu rütteln, würde allen Beteiligten nur das Leben schwer machen.“ Das hört sich fast nach etwas an, was so häufig vermisst wird: nach einem Plan.

Hehre Ziele – und dann? Für den „Fonds zur Unterstützung Betroffener politisch-extremistischer Gewalt“ hat das Abgeordnetenhaus für die vergangenen zwei Jahre insgesamt zehn Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Abgerufen wurden davon aber nur rund vier Millionen Euro. Das geht aus einem Bericht der Innenverwaltung an den Hauptausschuss hervor, der dem Checkpoint vorliegt. Bezahlt wurde damit zum Beispiel eine Fortbildung für die Polizei zu antimuslimischem Rassismus, Veranstaltungen am Präventionstag, Deeskalationsworkshops, eine Polizeistudie oder Lehrkräftefortbildungen. Im vergangenen Jahr wurde außerdem noch eine Million Euro aus dem Fonds für Opfer zweckentfremdet: Das Geld musste zur Erstattung von Kosten herhalten, die an andere Bundesländer für Unterstützungseinsätze in Berlin (etwa bei Corona-Protesten) überwiesen werden mussten. Womöglich auch Opfer-Hilfe – aber ganz anders als vom Parlament gedacht.

Die neue Großstadt-Arbeiterklasse steht immer seltener am Band. Sie liefert Pakete, Getränke oder das Essen. Bei Eis und Regen jagen die Boten von „Lieferando“, „Gorillas“ und Co. mit ihren Fahrrädern durch die Stadt – nicht immer kommen sie gesund ans Ziel. 2021 gab es 454 Betriebswegeunfälle allein bei Lieferdiensten, die bei der Berufsgenossenschaft für Handel und Warendistribution versichert sind (längst nicht alle). Hinzu kommen 252 Arbeitsunfälle und 82 Unfälle auf dem Weg zur Arbeit. Das geht aus einer Antwort der Senatsverwaltung für Arbeit auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Christoph Wapler und Alexander Kaas Elias (beide Grüne) hervor. Was zum Schutz der Fahrer geschieht? „Neu eingestellte Kurierinnen und Kuriere werden vom Arbeitgeber im Rahmen der Erstunterweisung verstärkt auf die Straßenverkehrsordnung hingewiesen und es wird deren Einhaltung eingefordert“, beobachtet der Senat. Einen Helm und Arbeitskleidung gibt’s auch vom Arbeitgeber dazu. Nur sichere Radwege bauen sich nicht von allein.

Telegramm

Erschütternde Tat: Bei einer Verkehrskontrolle sind in Rheinland-Pfalz zwei Polizisten getötet worden. Zwei Tatverdächtige, Männer aus dem Saarland, konnten am Montagabend gefasst werden. Über die Hintergründe der schrecklichen Tat berichtet Frank Jansen. „Zwei Menschen mit Träumen, mit Hoffnungen, mit Familien und Freunden und Kollegen“, schreibt unser Kollege Karl Grünberg. „Plötzlich nicht mehr da, weil sie ihre Arbeit als Polizisten gemacht haben.“

Themenwechsel: Aus dem Ruhestand urteilt es sich besonders leicht. Der ehemalige Präsident der Freien Universität, Dieter Lenzen, verabschiedet sich in diesen und gibt der Berliner Wissenschaftspolitik aus Hamburg noch ein paar Aufwärtshaken mit:

+ „In Berlin haben zwei Regierungen einander abgelöst, denen anzumerken ist, dass sie nicht wissen, welchen Schatz die Berliner Wissenschaft darstellt. Michael Müller als Regierender Bürgermeister und Wissenschaftssenator? Schon das war doch eine Verlegenheitslösung, die einen jungen und unerfahrenen Staatssekretär in die Lage versetzt hat, die Unis durch die Exzellenzinitiative zu führen.“

+ „Der Ansatz, FU, TU, HU und Charité in eine Allianz zu zwingen, war falsch. Sie öffnet späteren Regierungen, die einen neuen Spardruck ausüben, die Möglichkeit zu Fusionen. Die jetzige Konstellation mit einer Senatorin, die in der Pandemie Gesundheit und Wissenschaft stemmen muss, ist nicht besser als die alte.“

Das ganze Interview meiner Kollegin Amory Burchard lesen Abonnenten hier.

Apropos effektvoll: Nicht in den Ruhestand gewechselt (dafür nach Wolfsburg) ist bekanntlich Union-Stürmer Max Kruse. Der merkt jetzt, was es wirklich bedeutet irgendwo „gecancelt zu werden“: Man verdient viel mehr Geld und wird einfach noch bekannter. Schampus… ehm, Chapeau!

Berlin hat ein Rad ab: Erstmals seit Jahren sind 2021 wieder etwas weniger Leute Fahrrad gefahren als im Vorjahr – allerdings war 2020 auch ein absolutes Rekordjahr. Alle Hintergründe (und statistischen Gemeinheiten) weiß Stefan Jacobs.

Ständig wird einem im Norden davon erzählt: Fisch…, Fisch…, Fischbrötchen. Stark. Aber haben Sie mal von einem klitzekleinen Dönerbrötchen „für zwischendurch“ geträumt? Nils Bokelberg hat so eine Idee im Kopf, die Berlin vom Bauch auf die Beine stellen könnte. Und zwar hier.

Nochmal Kulinarik: In Berlin sind die Küchen Afrikas zu Unrecht wenig bekannt. Von marokkanisch über sierra-leonisch bis südafrikanisch lesen Abonnenten hier einen Überblick über die interessantesten Adressen in Berlin.

Nicht für Zwischendurch, sondern für Fast-Vollzeit: Der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf sucht einen „Marktmeister für den städtischen Wochenmarkt“. Arbeitszeit: 39,4 Wochenstunden. Aber keine Minute mehr. Ich kontrolliere das.

Polizeimeldung der anderen Art: Polizisten haben in der Nacht zum Montag einen angehenden Kollegen gestoppt. Der 20-Jährige lieferte sich ein Rennen mit einem 18-Jährigen. Beide überfuhren mehrere rote Ampeln an der Potsdamer Straße. Ihre Dienstwaffe und ihre Marke, bitte.

Dachten Sie auch, Lollitests wären irgendwie…süß? Jedenfalls geht es eigentlich darum, sich ein komplett trockenes Wattestäbchen in den Mund zu pappen. Der Sohn von Checkpoint-Kollegin Anke Myrrhe hat schon beschlossen: „Nie wieder mach ich das. Dann lieber in die Nase.“ Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft…!

Zum Schluss: Heute jährt sich der Militärputsch in Myanmar zum ersten Mal. Vor der Residenz des Militärattachés des Landes in der Clayallee wollen Studierende aus diesem Anlass gegen die Junta demonstrieren – dann soll es weitergehen zur Botschaft. Was war nochmal genau los in Myanmar? Das lesen Sie hier.

Zitat

„Wieso kommen die zu uns? Lassen die Schwächsten leiden? Warum blockieren die nicht eine Straße im Regierungsviertel?“

Ein Arbeiter aus Pankow reagiert auf die Straßen-Blockaden von Klima-Aktivisten.

 

Stadtleben

Essen – Semmeln? Sind wir hier in Bayern? Natürlich nicht, aber die Hauptstadt kann kulinarisch auch Freistaat, und ab morgen beweisen die Macher des Engelbeckens das mit ihrem ersten Pop-Up. Zwei Wochen lang verwandelt sich die Schankwirtschaft in das „Semmelbecken“, auf der Karte halten Leberkäs-Semmeln und Semmeln mit Krustenbraten Einzug, außerdem zwei vegetarische/vegane Varianten. Zudem gibt es eine ominöse „French Semmel“. Was das genau ist, finden Sie am Besten vor Ort heraus. Di-Fr 12-22 Uhr, Steifensandstraße 5, U-Bhf Sophie-Charlotte-Platz

„Wir sind die Neuen“

60 der insgesamt 147 Parlamentarier sind in dieser Legislaturperiode neu im Berliner Abgeordnetenhaus. Im Checkpoint stellen wir sie vor.

Name: Bahar Haghanipour (Grüne)
Beruf: Sozialwissenschaftlerin
Alter:  37 Jahre
Wahlkreis: Neukölln (WK 4)
Berliner Lieblingsort: „die frische Luft und freie Sicht auf dem Tempelhofer Feld“
Eine Sache, auf die ich mich 2022 in Berlin freue: „Dass die Berliner Gleichstellungspolitik 2022 in Grüner Hand liegen wird.“

Foto: Thomas Lobenwein

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Berliner Gesellschaft

Geburtstag – „Meiner allerliebstesten ‚68erin‘ die besten und liebsten Glückwünsche zum Geburtstag von Deinem ‚Leo‘.“ / Paula Beer (27), Schauspielerin / Ulrike Frank (53), Schauspielerin / Stephan Hampe (59) / Jakob Mattner (76), Maler und Bildhauer / Hans Werner Olm (67), Kabarettist, Schauspieler, Sänger und Synchronsprecher / „Liebe Leni Sage, alles Gute nachträglich! Sei geherzt, Naomi <3“ / Christine Schorn (78), Schauspielerin / Petra Schwuchow (55), PR-Expertin / Birger Sellin (49), Schriftsteller / „Ulfa! Sie lebe hoch! Zum runden Ehrentag schicken wir herzliche Glückwünsche! Ein in jede Richtung kraftvolles neues Jahrzehnt für Dich! Iris mit Anhang“ / Renate Sommereisen „Wir wünschen dir alles erdenklich Liebe zu deinem Geburtstag und freuen uns schon auf die Currywurst am Samstag. Christian, Teresa und Thomas“ / „Lieber Wolfgang, zum 84. Geburtstag die besten Glückwünsche von Deinem langjährigsten Freund. Bleib gesund und erfreue Dich weiterhin Deines Lebens, auch ohne Marokko“

+++ Sie möchten der besten Mutter, dem tollsten Kiez-Nachbarn, dem runden Jubilar, der Lieblingskollegin oder neugeborenen Nachwuchsberlinern im Checkpoint zum Geburtstag gratulieren? Schicken Sie einfach eine Mail an checkpoint@tagesspiegel.de.+++

Gestorben – In memoriam: Monika Brauer, verstorben am 1. Februar 2018/ Erika Emilie Brandis, * 19. Juni 1935 / Dipl.-Ing. Gudrun Chatterjee, * 30. Juli 1946 / Hartmut Krüger, * 20. September 1937, Rechtsanwalt und Notar a.D. / Prof. Dr. med. Reinhold Ernst Schmidt, * 17. Dezember 1951, Mediziner, Schwerpunkte Immunologie und Rheumatologie

Stolperstein –  Charlotte Kroner (Jhg. 1882) übernahm 1906 mit ihrem Ehemann Arthur Kroner (Jhg. 1874) den „Zauberkönig Berlin“ von ihrem Vater, der das Zauberartikelgeschäft in der Friedrichstraße 55 in Mitte Ende des 19. Jahrhunderts gegründet hatte. Nach der Reichspogromnacht 1938 wurde das Geschäft jedoch „in arische Hände gelegt“, 1942 wurde Charlotte Kroner durch eine öffentliche Bekanntmachung im „Reichsanzeiger“ offiziell enteignet. Trotz der Isolierung und Entrechtung blieb sie mit ihrem Mann und ihrer ältesten Tochter Meta (Jhg. 1905) in Berlin. Nach der Verhaftung und der Ermordung ihrer Tochter in Auschwitz sowie der omnipräsenten Angst nahm sich Charlotte Kroner am 31. Januar 1943 das Leben. Zwei Monate später tat Arthur Kroner es ihr gleich. An der Friedrichstraße 55 in Mitte erinnert ein Stolperstein an Familie Kroner.

Encore

Ich weiß ein Geheimnis. Lautet Ihr Passwort „passwort“? Oder ist es „123456“? Vielleicht ist es „schatz“, „basteln“ oder „berlin“? Das wären jedenfalls fünf der zehn am häufigsten genutzten Passwörter Deutschlands im Jahr 2021. Falls Sie sich erwischt fühlen, können Sie den Angstschweiß wieder vom Smartphone wischen: Heute feiern wir nämlich den „Ändere-Dein-Passwort-Tag“. Der findet seit 2012 jährlich am 1. Februar statt. Er wurde anlässlich eines spektakulären Hacks eines Webshops in den USA eingeführt.

Grund genug, sich heute einmal Gedanken zu machen: Benutze ich für alles das gleiche Passwort? Habe ich es schon jahrelang nicht gewechselt? Ist mein Passwort eines der oben genannten? Dann wissen Sie ja, was zu tun ist. Was für den „safer use“ des Internets ansonsten zu wissen ist, lesen Abonnenten hier (TPlus).

Alle nicht passwortgeschützten Geheimnisse hat heute Matthieu Praun gesammelt. Das Stadtleben hat Sarah Borufka entschlüsselt, Lionel Kreglinger hat diesen Newsletter produziert. Morgen passt Ihnen hier Nina Breher einige Worte zu. Wir lesen uns am Donnerstag wieder. Bis dahin,

Ihr Julius Betschka

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