muss die Mauer wieder her? Freiheit hat ihre Grenzen und Berlin scheint langsam voll – zumindest, wenn man den Worten diverser Landespolitiker glaubt. Während die Linken-Abgeordnete Katalin Gennburg weniger Ausgaben für Tourismus-Werbung forderte, startete CDU-Mann Christian Gräff am Donnerstagabend die nächste Nicht-Willkommensoffensive. „Wir müssen denen, die hierherkommen sagen: Macht euch keine falschen Erwartungen. Wir haben die Infrastruktur nicht. Ihr könnt hier nicht herziehen“, sagte er dem RBB und berlinmauerte – um die ersten Steine dann schon am Freitagvormittag wieder abzureißen. Kein Wunder: Sowohl Landeschef Kai Wegner als auch Fraktionschef Burkard Dregger und Generalsekretär Stefan Evers distanzierten sich umgehend und deutlich, bezeichneten den Aufschlag als „Einzelmeinung“, die in der Partei „niemand sonst“ teile.
In einer Nachricht an die CDU-Fraktion schreibt Gräff: „Liebe Freunde, ich bedaure die Irritationen die meine Äußerungen ausgelöst haben! Ich selbst gehöre zu der Generation, die Nutznießer der Freiheit ist, die wir in unserer Stadt seit knapp 3 Jahrzehnten haben. Neue Mauern und Abschottung sind jenseits meiner Vorstellungskraft und politischen Visionen! Mir ging es einzig und allein darum, auf zugespitzte Weise die eklatante Ignoranz und das Versagen von r2g bei den Themen Wohnungsbau, Bildung und Infrastruktur zu thematisieren. Es tut mir sehr leid, wenn dies in meiner Kommunikation misslungen ist. LG Christian“
Kurz zuvor schrieb an Gräff Fraktionschef Burkard Dregger: „Lieber Christian, Du musst heute Vormittag selbst eine klarstellende Erklärung abgeben, so wie wir das schon gestern Abend besprochen haben. Herr Wedekind unterstützt. Du verlierst sonst das Vertrauen der Fraktion und der Wohnungswirtschaft. Ich rate es Dir dringend an. BG Burkard“
„Berlins Freiheit, sie braucht Möglichkeiten, Platz, Mut und einen Rahmen. Was sie nicht braucht: Grenzen", kommentiert Checkpoint-Chef Lorenz Maroldt heute im Tagesspiegel. Die weiteren Reaktionen reichen am Freitag von Kritik über Kritik bis hin zu Kritik. Ein Überblick:
„Die Äußerungen zu Zuzug und zur Einschränkung von Tourismus schaden unserer Stadt.“ (Michael Müller, Regierender Bürgermeister / SPD)
„In Berlin ist die Mauer vor 30 Jahren nicht eingerissen worden, um sie heute wieder aufzubauen.“ (Ramona Pop, Wirtschaftssenatorin / Grüne)
„Mit dem Abschottungsvorschlag à la DDR hat sich die CDU als seriöse Berlin-Partei verabschiedet. Probleme werden nicht mit einem Stoppschild an der Stadtgrenze gelöst.“ (Sebastian Czaja, Fraktionschef FDP)
Selbst die AfD fordert offene Grenzen.
Wer fehlt? Die Linke. Via Twitter fragt Ex-Staatssekretär Tim Renner: „Nehmt ihr den Christian Gräff jetzt bei Euch in der Fraktion auf?" Keine Antwort. Wir reichen die Frage an dieser Stelle gerne nochmal weiter. Über Rückmeldungen freuen wir uns: checkpoint@tagesspiegel.de.
Den Soundtrack des Tages liefert derweil Marius Müller-Westerhagen: „Freiheit, Freiheit / Wurde wieder abbestellt", „Freiheit, Freiheit / Ist das einzige, was zählt“ – und jetzt kommt (auch für alle Zugezogenen und Touristen) die Stelle zum Tanzen!
Telegramm
Manchmal muss man in Worte fassen, was sich nicht in Worte fassen lässt. Bei einem schwereren Verkehrsunfall an der Ecke Invalidenstraße / Ackerstraße wurden am Freitagabend vier Menschen, darunter ein Kind im Alter von drei bis vier Jahren, getötet, drei weitere „mittelschwer“ verletzt. Ein Porsche-SUV-Fahrer war auf den Gehweg gerast, den Behörden zufolge handelte es sich „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ um einen Unfall. Den Opfern soll heute um 17.30 Uhr im Rahmen einer Mahnwache gedacht und „gegen die Straßengewalt“ protestiert werden.
Währenddessen im Spiegel: „Ohne Helm und Verstand“ – acht Autoren haben recherchiert, warum E-Scooter zur neuen Plage in den Großstädten– und zur tödlichen Gefahr geworden sind.
Kurzer Blick in die Konkurrenz: Die B.Z. titelt heute ein Foto des Berliner Unfallortes und „Kleinkind und seine Oma sterben“. Die weiteren Schlagzeilen folgen im Blatt: „Hier versucht die Polizei zum x-ten Mal den Drogensumpf im Görli trockenzulegen“ / „Hier verrät der Innensenator, was er im Kampf gegen die (Clan-) Kriminalität seit Jahren falsch macht“ / „So versteckt sich Müller hinter dem iranischen Mullah-Schergen“ / „Wieder mehr Fälle von Kindesgefährdungen“ / „Die Gentrifizierung macht auch vor Gott nicht halt“ / „Ehrenamtliche Retter beschimpft und mit Bengalos angegriffen“ / „Wären Minderheitsregierungen in Bund und Ländern eine Chance für die Zukunft?“
Der Hass- und Hetzepreis geht heute an Joachim Kuhs, Vorsitzender der Vereinigung Christen in der AfD. In einem Gespräch mit Tagesspiegel-Kollegin Selina Bettendorf sagte er: „Ja, Nächstenliebe ist begrenzt auf Deutschland. Die Nächstenliebe ist keine Fernstenliebe.“ Wäre Jesus nicht auferstanden, würde er sich spätestens jetzt im Grab umdrehen.
An dieser Stelle will man kurz anmerken: Ja, es gibt sie noch, die guten Geschichten.
Der Herzenspreis geht heute an die Touristin, die am Hauptbahnhof ihren Kaffee verschüttet und danach den Bahnsteig mit Taschentüchern trockengewischt hat. „Die Berliner*innen sehen ihr fassungslos zu. Dann sagt jemand: ‚Das ist nicht nötig, da können Sie Bescheid sagen, dann kommt jemand und macht das.‘ Darauf sie: ‚Soweit kommt es noch, dass ich andere Leute meinen Kaffee für mich aufwischen lasse.‘“ Ein Twitteruser kommentiert: So beginnt die humane Revolution.
Das Sozialgericht Berlin hat das Jobcenter zur Übernahme von Brillenkosten in Höhe von 602 Euro verurteilt. Die Sehhilfe sei eine Voraussetzung zur Integration in den Jobmarkt. Humane Revolution II.
Bereits zum zweiten Mal war das Landesamt für das Mess- und Eichwesen Berlin-Brandenburg in der Bäckerei „100 Brote“ und wollte veranlassen, dass die Gewichtsangaben auf den Kreidetafeln („G“ und das „KG“) nicht in Versalien, sondern klein geschrieben werden – andernfalls könne es zu Verwirrungen kommen. Bereits zum zweiten Mal wollen sich die Betreiber weigern. Revolutionärer Widerstand à la Prenzlauer Berg.
Sowohl die Berliner Panda-Babys als auch der Checkpoint haben es in die New York Times geschafft. Christopher F. Schuetze berichtet über den Wunsch unserer LeserInnen, die beiden Minis Hong und Kong zu nennen und schreibt über die politische Macht der Tiere.
Berechnet. Einer Studie zufolge sollen die Howoge-Sanierungen der Berliner Schulen im Durchschnitt mehr als doppelt so teuer sein, als gewöhnlich. „Würde die Howoge die Schulen zu Kosten neu bauen und sanieren, wie es dem Bundesdurchschnitt entspricht, könnten 814,6 Millionen Euro gespart werden.“ (Q: Berliner Zeitung)
Begutachtet. In einem neuen Mietendeckelgutachten geht der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, davon aus, dass das Vorhaben der Berliner Landesregierung verfassungswidrig ist. (Q: Funke-Mediengruppe)
Beklagt. In einem neuen Plädoyer wird Berlin zum „failed state“ deklariert. Gründer, Investor und Ex-Movinga-CEO Finn Hänsel schreibt (obwohl er, wie er selbst sagt, Berlin-Fan ist): Der Senat ist klar gescheitert. (Q: tn3)
Bayern. Weil sich die Bayernpartei über die Diätenerhöhung im Berliner Abgeordnetenhaus ärgert, schlägt sie ein neues Landeswappen vor: mit Faultier statt Bär.
Ingo Senftleben wollte für‘s Land alles geben und trotzdem war alles nicht genug. Nach einem Machtkampf in der eigenen Partei ist der brandenburgische CDU-Chef mitten in den Gesprächen über eine Beteiligung an einer künftigen Regierung zurückgetreten. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), der nach Tagesspiegel-Informationen Kenia favorisiert, hatte innere Stabilität der Union als Bedingung für eine Koalition formuliert.
„Die Hohenzollern haben Hitler aktiv unterstützt“, sagt der Historiker Stephan Malinowski und spricht im Tagesspiegel-Interview über die Ansprüche der Adelsfamilie und ihre Rolle bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten.
Beim geplanten BER-Start im Oktober 2020 könnte es aus Sicht des früheren Berliner Flughafenmanagers Elmar Kleinert eng werden. Der Abstand zwischen Sicherheitskontrolle und Check-in-Schaltern im Terminal sei zu klein und könnte zu Stau führen, sagte er am Freitag im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses. Dazu kritisierte Kleinert den früheren Flughafenchef Hartmut Mehdorn. Er habe „sich mit großer Flughöhe dem Thema Ausbau BER gewidmet, weniger der Fertigstellung des Flughafens“.
Bleiben wir beim BER und kommen zur außerterminalchen Verkehrsplanung. Eine kleine Anfrage mehrerer FDP-Fraktionsmitglieder an die Bundesregierung zeigt: Die Parkflächennutzung mit Volkswagen ist bereits ausgelaufen. Die Bereitstellung von asphaltierten Flächen für Tests von autonomem Fahren oder „die Erprobung von Flugtaxis“ bis zur Eröffnung liegt zunächst in der Entscheidung des Flughafenbetreibers. „Ausreichend Carsharingplätze“ seien bereits geplant, dafür allerdings in den Parkhäusern nur „Ladesäulen an ca. 20 Stellplätzen“.
In eigener Sache. Wann auch immer der BER sein Baustellendasein hinter sich lässt: Auch unser Nicht-Eröffner der Herzen bleibt Hartmut Mehdorn („Er wird immer fertiger und fertiger“). Nicht anders könnten wir erklären, warum er in einer Mail an die FBB-Pressestelle als „Ehrengast“ zu unserem „Future Energies Science Match“ am 3. Dezember 2019 eingeladen wurde.
Unsere Samstagsbeilage „Mehr Berlin“ geht heute mit zwei neuen Kolumnen an den Start. In „Die Station meines Lebens“ schreiben Tagesspiegel-AutorInnen über Berliner Haltestellen, die sie geprägt haben. Den Anfang macht Karl Grünberg, für den Heinersdorf Kirche lange Zeit ein gefürchteter Ort war – und jede Heimreise vom Hackeschen Markt ein Horrortrip. In „Darüber reden“ berichten von besonderen Lebensumständen betroffene BerlinerInnen, wie sie gerne angesprochen werden, welche Sätze sie verletzen – und welche helfen. Die unter Depressionen leidende 61-jährige Ilse Coordes will folgenden Satz nie wieder hören: „Du solltest mal wieder rausgehen, die Sonne scheint so schön!“
Durchgecheckt
Bei den Brandenburger Landtagswahlen hat Klara Geywitz am vergangenen Wochenende ihr Mandat gegen eine Grünen-Politikerin verloren. SPD-Chefin werden will sie trotzdem – zusammen mit Olaf Scholz. Foto: John MacDougall/AFP
Frau Geywitz, gemeinsam mit Olaf Scholz kandidieren Sie für den SPD-Vorsitz und eine Erneuerung der Partei. Zumindest Ihren Partner verbinden eher wenige mit einem tatsächlichen Neuanfang. Woher nehmen Sie den Optimismus?
Die SPD braucht beides – Erfahrung und Erneuerung. Olaf Scholz beweist als Vizekanzler, dass er die Richtung vorgeben und dieses Land führen kann. Ich blicke mit größerem Abstand auf das Ganze und kenne die SPD seit vielen Jahren. Er kann gut erklären, ich bringe die Dinge auf den Punkt. Gemeinsam können wir die große Aufgabe, die vor der SPD liegt, stemmen. Wir ergänzen uns.
Vergangenen Sonntag hat eine rechtspopulistische Partei bei zwei Landtagswahlen mehr als 20 Prozent geholt, während die Volksparteien massiv Stimmen verloren haben. Trägt die SPD Ihrer Ansicht nach Schuld daran?
Die Wahlergebnisse der AfD sind ein Warnruf für alle Parteien, auch für uns. Wir haben sicher nicht alles richtig gemacht, als sich entscheidende Umbrüche in der Gesellschaft vollzogen haben. Ich sehe zwei Hauptpunkte: Wir müssen uns wieder mehr um die Mitte der Gesellschaft, die Leistungsträger im Alltag, kümmern. Beispielsweise um Polizisten, Pfleger oder Isolierer. Und wir müssen in vielen Feldern wieder kompetenter werden, zum Beispiel bei der Modernisierung der Wirtschaft und dem Blick auf Zukunftstechnologien. Wir haben uns oft zu sehr auf Verteilungspolitik konzentriert – und tatsächlich ist der Niedriglohnsektor auch immer noch viel zu groß. Jetzt geht es vordringlich um Digitalisierung und den damit einhergehenden Wandel in der Arbeitswelt.
Wie wollen Sie diesen Wandel gestalten?
Was wir brauchen sind Konzepte gegen Angst – gegen die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und gegen die Angst vor dem Klimawandel. Unsere Lösung liegt in einer ökologischen Industriepolitik, die Arbeitsplätze schafft.
Kommt mit dem Vorsitz-Duo Geywitz / Scholz dann auch der Kanzlerkandidat Olaf Scholz?
Das steht derzeit nicht zur Entscheidung an. Fest steht: Die SPD will auch künftig regieren und dafür setze ich mich ein.
Letzte Frage: Gibt’s noch einen kurzen, schmissigen Slogan für Ihre neue SPD?
Probleme lösen und das Land voranbringen.
Wochniks Wochenende
Die besten Berlin-Tipps für drinnen, draußen und drumherum.
48h Berlin
Samstagmorgen – Gehören auch Sie zu denen, die schon jetzt, da nach der unerträglichen Hitze endlich schönes Wetter ist, die langen Tage unter freiem Himmel zu vermissen beginnen? Zum Glück ist auch dieses Wochenende noch einiges draußen los. In der Suarezstraße zum Beispiel steigt einmal mehr die beliebte Antikmeile, bei der 35 Antiquitätenfachgeschäfte und 100 Gasthändler (aus unzähligen Bewerbern verlesen, wie es heißt) Schönes, Exotisches und Seltenes aus verschiedenen Ländern, Epochen und Stilen feilbieten, von Biedermeier über Art Deco bis zu zeitgenössischem Upcycling. Streng genommen beginnt das Ganze zwar erst mittags um Punkt 12, aber einen ausgezeichneten Kaffee vorab kann man sich schon mal im Yaz Up gönnen, Neue Kantstraße 32. Liebevoll eingerichtet, kinderfreundlich und barrierefrei kann man sich hier nochmal den tatsächlichen Antiquitätenbedarf durch den Kopf gehen lassen, um Impulskäufe schon im Vorfeld einzudämmen. Ach was, eingedämmt gehört heute höchstens die Eindämmung selbst, es ist doch Wochenende!
Samstagmittag – Und genau zum höchsten Sonnenstand kommt auch der höchste Berg der Hauptstadt zu sich – Teufelsberg heißt er aber nicht. Ausnahmsweise handelt es sich heute um einen Vulkan in den Ahrensfelder Bergen, dessen Spitze alle Berge der Stadt vorübergehend überragen soll. Bis zum Ausbruch zumindest. So feiert der Bezirk Marzahn-Hellersdorf seinen 40 Jahre währenden Aufstieg (oder so). Alles Wesentliche dazu hat Caspar Schwietering für den Leute-Newsletter aufgeschrieben. Kultursenator Klaus Lederer wird dort übrigens eher nicht zugegen sein, der hat nämlich schon den Bornholmer Kleingärtnern zugesagt, ab 11 Uhr für eine Diskussion zur Zukunft von Kleingärten in der Hauptstadt zur Verfügung zu stehen. Das Programm reicht von politischer Debatte bis Hula Hoop, ist engagiert, verspricht aber mehr Bodennähe als das Marzahner.
Samstagabend – Nochmal zurück zu schwindelerregenden Höhen: Anna Netrebko gibt heute Abend die Lecouvreur konzertant in der Deutschen Oper und noch gibt es Restkarten. Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Hier noch Überzeugungsarbeit zu leisten, würde nämlich höchstens das Gedränge an der Abendkasse erhöhen und die Schwarzmarktpreise der Tickets in astronomische Höhen treiben – auf offiziellem Vertriebsweg liegen die aktuell zwischen 180 und 240 Euro. Mehr geht aber immer, sowieso. Apropos: Im Neuköllner Sowieso, dessen bloße Existenz so weit abseits allen Mainstreams (nämlich in der Weisestraße 24) mich jedesmal mit der Welt versöhnlich stimmt, wenn ich daran vorbei laufe, ist die Musik weit weniger vorhersehbar. Meistens improvisiert, kann sie Spuren von Jazz über [denken Sie sich was aus] zu experimenteller ad-hoc-Geräusch-Komposition enthalten. So auch heute beim Quintett um Bishop, Dyberg, Müller, Wiik und Fischerlehner. Derselbe Geist bestimmt übrigens auch den Eintrittspreis, der in der Regel irgendwo in der Region 8 bis 15 Euro liegt.
Sonntagmorgen – Kommenden Mittwoch startet das Internationale Literaturfestival Berlin. Einen dramatischen Auftakt macht es schon heute: Interessierte Privatpersonen und Institutionen sind nämlich aufgerufen, Prosatexte oder Gedichte an Orten ihrer Wahl im öffentlichen Raum laut zu lesen. Im Gegenzug bekommen sie dafür Tageskarten für das Festival. Es könnte also hochdramatisch zugehen in der Stadt heute. Obwohl… wer weiß, ob die Vortragenden bei der allgemeinen Abstumpfung gegenüber vermeintlichen Selbstgesprächen, die mit der Headset-Telefonie einhergeht, überhaupt noch auffallen. Wenn Sie also heute Menschen begegnen, von denen Sie annehmen, sie würden telefonieren, horchen Sie doch etwas genauer hin, es könnte sich um ein literarisches Happening handeln. Wem das Lust macht, die Stadt detektivisch nach solchen Lesungen zu erkunden, beachte bei der Gelegenheit doch auch das Programm zum Tag des offenen Denkmals. Das verspricht, im Gegengsatz zur Suche nach den Stand-Up-Lesungen, eine sehr hohe Trefferquote. Die Liste der Stätten, die aus diesem Anlass heute und morgen mit besonderem Programm aufwarten, umfasst ganze 80 Druckseiten.
Sonntagmittag – Detektivische Ambitionen kann man zudem auch im Ausland ausleben. Nein, nicht was Sie jetzt denken. Gemeint ist natürlich die Prenzlberger Experimentalmusik-Institution in der Lychener Straße 60. In seiner Installation „Traces – Of“ hat hier der Künstler und Musiker Stefan Roigk ein Stück Musik versteckt, genauer: Indizien verstreut, Spuren, Andeutungen und Zeugenaussagen zusamengetragen. Und von 15 bis 18 Uhr ist Finissage mit Kaffekränzchen, was den Austausch von Verdachtsmomenten und Tathergangstheorien fördern sollte. Viele Ohren hören schließlich mehr als weniger.
Sonntagabend ist die beste Zeit für einen letzten Spaziergang zum Wochenende-Ende, zumal der immer früher einsetzende Sonnenuntergang auch Gutes hat. Es wird nämlich früher dunkel und das kommt einem alten Avantgardeprojekt entgegen: der Errichtung der elektrischen Nacht. Nur im Dunkeln lässt sich die Stadt nämlich vernünftig mit Kunstlicht in Szene setzen. Und eben das geschieht im Rahmen des Mural Festivals, bei dem eine Auswahl der größten Wandmalereien Berlins lichtgeflutet erstrahlt, während um sie herum die Nacht fällt – der Kontrast fördert den Fokus aufs Wesentliche, ebenfalls eine avantgardistische Geste. Durch den Nachtspaziergang soll eine spezielle App führen, die neben Standorten auch Hintergrundinfos zu den Wandbildern liefert. Wer die scheut, kann sich alternativ auch von einer rudimentären Karte führen lassen, beides kostenfrei über die Homepage zu beziehen. Wer beim Stöbern auf der Seite übrigens über Sexismen oder Militärmetaphorik stolpert, muss sich nicht abschrecken lassen. Die Wandbilder, um die es im Wesentlichen geht, haben mit dieser Rhetorik wenig zu tun.
Mein Wochenende mit
Stefan Roigk ist Künstler und Musiker. Mit Daniela Fromberg leitet er seit zehn Jahren das musikpädagogische Projekt Geräuschmusik, das musikalische Komposition ausschließlich mit Alltagsgeräuschen an Kitas und Grundschulen anbietet.
„Samstagabend spiele ich im Ausland ein Konzert im Rahmen meiner Ausstellung „Traces – Of“. Über die Ausstellung muss man wissen: Ich habe eine Komposition mit konkreten und abstrakt-elektronischen Klängen geschrieben, die Aufnahme dann einer Reihe von Menschen vorgespielt. Dann habe ich die Leute gebeten, mir in eigenen Worten oder auch Zeichnungen zu erzählen, was sie gehört haben. Und diese Schilderungen wiederum habe ich der Ausstellung zugrunde gelegt. Das heißt: Ausstellungsbesucher finden lauter Beschreibungen, Spuren und Indizien einer Musik, die sie gar nicht zu hören bekommen, von der sie aber womöglich trotzdem einen Eindruck gewinnen. Das hat was Detektivisches und die Spekulation Befeuerndes. Samstagabend aber spiele ich diese Komposition tatsächlich einmal, eben im Konzert. Und darum dreht sich im Grunde mein ganzes Wochenende. Ich werde mit dem befreundeten Musiker Francisco Meirino frühstücken, der mich wegen des Konzerts besucht, bei dem er ebenfalls auftritt. Vermutlich bei mir zuhause oder im Café Lola, weil es da so nett ist. Danach starten schon die Vorbereitungen für das Konzert, Soundcheck etc. Ich hoffe, noch Zeit zu finden, um in Ruhe im Kiez zu essen – allerdings nicht ausgiebig und fein, dafür ist sicher keine Zeit. Einfach und okay… zum Beispiel bei Stargarder Burger oder 1001 Falafel. Am Sonntag schlafe ich ganz sicher lange aus, weil es Samstag spät wird. Am Nachmittag ist dann schon die Finissage. Ich habe vor, Kuchen anzubieten um die Veranstaltung in Richtung eines gemütlichen Kaffeekränzchens zu entwickeln, werde also den Vormittag wohl mit Backen verbringen. Kaffekränzchen mag ich nämlich gern.“
Leseempfehlungen
Wem in letzter Zeit immer öfter grell pinke Bücher in Aktivistenhänden unter die Augen kommen oder gar die Durchfahrt erschweren, und wer sich fragt, warum, sollte selbst einen (gern auch kritischen) Blick hinein werfen. Es dürfte sich um den vor wenigen Tagen bei S. Fischer erschienenen Titel „Wann wenn nicht wir*“ handeln. Die deutsche Fassung des Handbuchs zur Extinction Rebellion, einer aus Großbritannien stammenden Klima-Bewegung (die heute eine Soli-Party in der Alten Münze feiert), setzt auf gewaltfreien zivilen Ungehorsam, um der Dringlichkeit der Klimakrise, die hierzulande (noch) nicht so unmittelbar spürbar ist, eben mehr Sichtbarkeit zu verleihen. Und so natürlich politischen Druck auszuüben. Das Ganze versteht sich nicht als Konkurrenzveranstaltung zu Fridays For Future, die ja auch auf eine milde Form des Ungehorsams setzen, sondern als Ergänzung, an der man über kurz oder lang nicht vorbeikommen wird – im Wortsinn vielleicht. Wer sich also kritisch auseinandersetzen oder vorbereiten möchte, schaue in diesen Text. Einen gut geschriebenen, anregenden Rahmen spannt seit Jahren der immerhin meistzitierte französische Theoretiker der Gegenwart und (Mit-)Gründer der Akteur-Netzwerk-Theorie, Bruno Latour. Lesenswerte Beispiele: „Kampf um Gaia“ und „Das terrestrische Manifest“.
Wochenrätsel
Welche Berliner Legende feierte kürzlich runden Geburstag?
a) Vor 55 Jahren sagte Kennedy: „Ich bin ein Berliner“
b) Seit 70 Jahren wird Currywurst verspeist
c) Der Berliner Bär steht seit 800 Jahren auf seinen Hinterläufen im Stadtwappen
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Jetzt mitmachenEncore
Gerade ist Miles Davis' neues Album erschienen. „Rubberband“ ist ein interessantes Kuriosum, weil es einen besonderen Augenblick in der Laufbahn des Trompeters markiert: 28 Jahre postmortem. Und in diesem Alter noch ein neues Album rauszuhauen, das soll ihm erst mal jemand nachmachen! Mal sehen, John Coltrane hat es letztes Jahr auch getan: „Both Directions at Once“, und das knappe 51 Jahre nach seinem Ableben. Prince, erst 2016 gestorben, produziert seit dem Ableben jedes Jahr mehr Alben als noch zu Lebzeiten. Bereits sechs posthume sind es, von denen „Piano & A Microphone“ das außergewöhnlichste ist: Er selber, ein Klavier, ein Mikrofon und ein Tontechniker, dem der Künstler (formally known as Prince) zwischendrin was zuruft. Ganz klar niemals zur Veröffentlichung vorgesehen und gerade dadurch ergreifend intim wie ein Blick hinter Make-up, Bühnenlicht und die tausendfach erprobte Bühnenpersona. Klar, die Verbindung „Showbiz und Unsterblichkeit“ ist nicht erst jetzt erfunden worden, von so etwas profanem wie dem Tod ließen sich Star-Karrieren noch nie aufhalten. Und das Interesse an Archivmaterial ist berechtigt – diese archäologische Note, wenn man die Musik als Entdeckung hört, eröffnet andere Zugänge. Man hört Musik, die man sonst nicht hören würde. Und das ist nicht nur für die Rechtehalter bereichernd. „Rubberband“ klingt allerdings überhaupt nicht nach Archivmaterial: weitgehend durchdacht statt unfertig, auf Hochglanz produziert statt intim. Und dadurch irgendwie zeitgenössisch. Als wär's von Anfang an für heute geplant gewesen.
Haben Sie ein anregendes Wochenende, bis zum nächsten Mal.
Ihre Ann-Kathrin Hipp