Überwiegend herbstgrau, Sonntag sind Schauer möglich bei bis zu 11°C

Pankower Abgründe: Wer hat hier wen betrogen?BER-Brandschutz funktioniert: „Ich bin nicht der Flughafen, ich arbeite hier nur“Berlins Beste der Woche

wenn Sie angesichts des trüben Wetters da draußen nur noch Netflix-Flimmern sehen, sollten Sie vielleicht mal wieder den Kopf heben: Die Realität ist zuweilen absurder als jedes Zucken auf dem Bildschirm.

In Pankow läuft gerade die erste Staffel Tiny-House of Cards, und eins ist schon nach Folge 2 klar: Erhobenen Hauptes kommt da niemand mehr raus.

Es gibt Abgründe, in die möchte man nie geblickt haben“, sagte Pankows Bezirksbürgermeister Sören Benn (Die Linke) gestern Abend dem Checkpoint. „So einer ist das hier. Die wird man nicht mehr ganz los. Die verändern was, ja.“

Am Abend demonstrierten vorm Rathaus 30 Grüne gegen einen Linken – zwei Parteien, die auf Landesebene gern wieder miteinander koalieren möchten. Und am Straßenrand schüttelten sich die Beobachterinnen und fragten sich, ob der Drehbuchautor nicht etwas übertrieben hat.

Der Hauptdarsteller Sören Benn, eigentlich bekannt als pragmatischer Bezirkspolitiker mit klar antifaschistischer Haltung, steht auf einmal als einer da, den die AfD ins Amt gewählt haben könnte.

Telegramm

Zu den weiteren Meldungen:

+++ Corona I: Womöglich kommt die Maskenpflicht an den Berliner Grundschulen zurück, der Hygienerat will darüber am Montag entscheiden. Als sicher gilt, dass es bei der Testfrequenz von drei Mal pro Woche bleibt. Grund: Die Zahl der infizierten Schülerinnen und Schüler steigt deutlich. Sie lag am Freitag an den allgemeinbildenden öffentlichen Schulen bei 1348. Das könnte der höchste Wert aller Zeiten sein, so genau weiß das die Bildungsverwaltung allerdings auch nicht. Und das ist eigentlich alles, was Sie wissen müssen.

+++ Corona II: Apropos testen. Es kommentiert unsere Kolumnistin Sabine Rennefanz (neueste Kolumne hier): „Heute Morgen haben wir uns unter Aufsicht des Erstklässlers getestet. Es stimmt nicht, dass die Kinder nichts gelernt haben: keiner administriert und beaufsichtigt Schnelltests so gut wie er.“

+++ Corona III: Der Herbst, der Herbst ist da: Schon nächste Woche droht die Überlastung der Intensivstationen. Die Sieben-Tage-Inzidenz springt (Stand 7 Uhr) auf 183,7.

+++ Corona IV: Österreich führt 2G ein: Menschen ohne Corona-Impfung dürfen ab Montag keine Lokale, Friseure und Veranstaltungen mehr besuchen. In Berlin liefe das dann so: „In Kreuzberg ist Covid-19 besiegt! Gestern Abend in der Oranienstraße: Ein Restaurant, vollgepackt, keine Masken nirgendwo, wir sind kurz reingegangen und haben unsere Impfpässe vorgezeigt, der Kellner lachte uns aus. ,Lasst mal stecken‘... Ist doch gut zu wissen, dass es solche Orte der Immunität gibt.“ (Q: Mail von CP-Leserin Christine Schön)

+++ Corona V: In Thüringen hat die Kassenärztliche Vereinigung die Schließung des Impfzentrums gefeiert – mit einer Party für 195.000 Euro und Jan Delay. Oh Jonny.

+++ Aprops feiern: Das neue Abba-Album ist da. „Eine große Enttäuschung“, kommentiert mein Kollege Frederik Hanssen. Die Süddeutsche schreibt: „Ganz dicht dran an der perfekten Liebe.“ Ist wohl Geschmacksache.

+++ Apropos Geschmacksache: Die BZ präsentiert heute auf einer Doppelseite „Berlins Verkehr der Zukunft“ und lässt die Politiker:innen ihre Wünsche äußern. Saleh (SPD): „Wir müssen auch neue U-Bahnen und Trams planen“; S. Czaja (FDP): „Wir wollen mehr Seilbahnen in Berlin“; Helm (Linke): „Verbrennermotoren sollen aus dem Stadtbild verschwinden“; Wegner (CDU): „Wir brauchen auch Magnetschwebebahnen“; Kapek (Grüne): „Schwere Unfälle wird es nicht mehr geben“. Es grüßt: der Weihnachtsmann.

Thomas Wochnik

Wochniks Wochenende

Die besten Berlin-Tipps für drinnen, draußen und drumherum.

48h Berlin

Samstagmorgen – Wer unter der Woche von einem Termin zum nächsten rast, hat wahrscheinlich keinen Blick für die kleinen Dinge übrig. Wie gut, dass Wochenende ist! Unter dem vermeintlich Nebensächlichen findet sich nämlich manchmal auch ganz Großes. Beispiel: eine Menükarte von 1927. Aufgetischt wurde Ochsenschwanzsuppe, Ostender Steinbutt mit Sauce Mousselline, Rehrücken mit Gemüse nach Jägerart, ein süßes „Omelette Surprise“ und Käsegebäck zum Abschluss. Diese Karte ist übrigens in der Liebermann Villa am Wannsee zu sehen. Excusez-moi, eine schnöde Menükarte? Es handelt sich dabei um die persönliche Menükarte von Martha Liebermann. Als Druckgrafik mit vier Lithografien von Maler Max Slevogt gestaltet, ist sie eigentlich eine Dankeskarte mit humoristischen Illustrationen der Gerichte anlässlich eines feierlichen Essens zum 80. Geburtstag von Martha Liebermanns Mann Max. Darauf handgeschriebene Widmungen vom Who-is-Who der Berliner Kunst- und Kulturszene, die seinerzeit bei den Liebermanns ein- und ausging, geben einen Einblick in die Atmosphäre kurz vor Wirtschaftskrise und Nazi-Terror. Anfang März 1943, nachdem sie vom Regime faktisch enteignet und ihrer nächsten Menschen beraubt war, entzog sich Martha Liebermann der Deportation ins KZ Theresienstadt durch Suizid.

Samstagmittag – Als das „Unbewusste Berlins“ bezeichnet Regisseur Stefan Nolte die Lausitz: Kaum jemand, der das Leuchten der Stadt vor Augen hat, denkt an die vernarbte Tagebau-Wüste im unweiten Osten. Dabei stecke die Lausitz „in jeder Pore dieser Stadt – von der Energie bis zur Bausubstanz“. Gemeinsam mit dem Theaterkollektiv Recherchepraxis, Schauspieler Heiner Bomhard und dem Chor der Statistik hat Nolte ein Landschaftstheater geschaffen, das auf die Beziehung der energiehungrigen Stadt zum geschundenen Land aufmerksam machen will – mit Musik von Bernadette La Hengst, Wolfsgeheul und einem eigens gebauten Schiff, das um 16 Uhr vor dem Mercedes-Platz, um 18 Uhr am Dom-Aquarée und um 19.30 Uhr vor dem Haus der Kulturen der Welt anlegt.

Samstagabend – Pandemiebedingt konnte das Jazzfest im letzten Jahr bekanntlich nur online stattfinden. Um das Beste aus dem digitalen Rahmen zu holen, wurde um es vom Standort Berlin losgelöst und als Jazzfest New York-Berlin umgesetzt, wobei zahlreiche Echtzeit-Übertragungen zwischen den beiden Städten ungewohnte Formen des musikalischen Zusammenspiels ermöglichten. Diesmal ist es wieder offline zu erleben. Da sich das Brückenschlagen zu weit entfernten Musikszenen aber bewährt hat, gibt es nun gleich drei bilaterale Programme parallel: Berlin-KairoBerlin-São Paulo und Berlin-Johannesburg. Programm und Tickets gibt's hier.

Sonntagmorgen – Menükarten – siehe oben – sind im Übrigen auch dann, wenn sie ganz schnöde daherkommen, Dokumente ihrer Zeit. Ochsenschwanzsuppe und Rehrücken etwa werden in den unzähligen Menüs auf der Veggieworld-Messe garantiert nicht zu finden sein. Wer sich für vegane Ernährung interessiert, Einblicke in Zukunftstrends und Produktions-Hintergründe erhalten oder sich einfach mal durch ein riesiges Angebot an feinen und mitunter kuriosen Speisen fräsen will: Von 10 bis 18 Uhr in der Luckenwalder Straße 4-6 (Gleisdreieck), Tickets kosten 12 Euro.

Sonntagmittag – Ein Dokument seiner Zeit ist auch der gerade in den Kinos angelaufene Dokumentarfilm der Berliner Regisseurin Yael Reuveny, „Kinder der Hoffnung“. Vor 40 Jahren in Israel geboren und aufgewachsen, beschreibt sie ihre Generation, die zwischen Zeiten „optimistischer Friedensverhandlungen“ und der Intifada aufwuchs, als eine, die mit der Hoffnung begann und mit dem Verlust derselben zu leben lernen musste. Reuveny reist zurück in ihre Heimat, um gleichaltrigen Freunden aus ihrer Kindheit und Jugend wiederzubegegnen und herauszufinden, was aus ihnen geworden ist. 15 Uhr im Kino Krokodil (Greifenhagener Straße 32), 16 Uhr im fsk-Kino (Oranienplatz).

Sonntagabend – Zum Schluss noch einmal zu den kleinen Dingen: Von Komponist:innen wird erwartet, große Werke zu schreiben, mit viel Pomp, Glanz und Glamour. Dabei sind es oft kurze Miniaturen, in denen bestimmte musikalische Ideen vorgestellt und erprobt werden, ohne umständlich auf Länge aufgeblasen werden zu müssen. US-Komponist Sidney Corbett hat mit seinen „Piano Valentines“ mehrere Notenbücher voller solcher Miniaturen geschrieben und heute um 19 Uhr lässt Pianistin Yoriko Ikeya mit ihnen das Wochenendeende ausklingen. Sirje Viise durchschreitet in einer Performance zudem singend den Konzertraum im Kunstraum Bethanien. Das Ganze findet im Rahmen der Klangwerkstatt Berlin statt, Tickets kosten 8 Euro.

Mein Wochenende mit

Durchgecheckt

Kevin, unser liebstes Wildschwein in der Rotte, kennt jeden Flecken Land in Berlin und Brandenburg. An dieser Stelle gibt er wöchentlich Ausflugstipps ins Umland.

„Neulich war ich mit Chantal, der werten Sau von Nebenan, im Bredower Forst in Falkensee, Verwandtschaft besuchen. Eine Cousine Chantals zweiten Grades bewohnt nämlich schon in dritter Generation einen Schlossbau auf dem Schneewittchenberg. Schneewittchenberg? Davon hatte ich bis dato noch nie gehört. Dabei hätte ich, wie sich herausstellte, nur etwas genauer lesen müssen, gewesen bin ich dort nämlich durchaus schon einmal. Denn der Schneewittchenberg ist beschriftet, wie so ziemlich alles entlang des angeblich ältesten Naturlehrpfads Deutschlands. Und eben deshalb, scheint mir, fühlen sich dort auch Zweibeiner sauwohl, in der Stadt ist schließlich auch alles beschriftet. Ich dagegen pflege ja eher im Unterholz zu lesen, denn das Unterholz, das erzählt einem keine Märchen. Schneewittchen, sowas… Stattdessen empfehle ich den stattlichen Hainbuchen und Eichen Beachtung zu schenken, an deren Fuß manchmal Waldmeister wächst. Oder dem Lied des Eichelhähers zu lauschen. Auch die Cousine zweiten Grades, obwohl schon zeitlebens hier ansässig, war für die märchenhaften Nuancen des Waldes noch durchaus zu begeistern – er unterstreiche ihren Teint, wie sie sagte, so sei sie nämlich die Schönste im ganzen Land. Aus Höflichkeit widersprach ich nicht, fand bei näherer Betrachtung aber doch mich selbst hübscher. Darum kann ich mich auch guten Gewissens empfehlen, mit freundlichen Grunzen.“

Lese­empfehlungen

Wird hierzulande über den Islam gesprochen, dann allzu oft mit sehr viel Meinung, Emotion und wenig fundiertem Wissen. Mira Sievers, Juniorprofessorin für Islamische Glaubensgrundlagen, Philosophie und Ethik an der HU, trägt wesentlich dazu bei, dieses Verhältnis umzukehren – und erhält dafür den Berliner Wissenschaftspreis. Auch der Politikwissenschaftler Michael Zürn wird ausgezeichnet, für seine grenzüberschreitende Perspektive auf Probleme der Weltgemeinschaft. Amory Burchard (Abo) hat für Sie genauer hingeschaut.

Das Gesicht Ronald Zehrfeld ist aus zahllosen Fernsehfilmen weit bekannt – was der Mensch hinter den vielen Rollen und ehemalige DDR-Judo-Meister sonst so denkt, etwa über Identitäten, Panikattacken und #allesdichtmachen, hat er Robert Ide (Abo) im Interview erzählt.

Wer in Berlin einen Ort für Kunst schaffen will, muss natürlich mitten ins Zentrum. Der Galerist Avi Feldman sieht das anders und eröffnet eine Galerie in Wannsee. Boris Buchholz (Abo) hat ihn gesprochen.

Wochen­rätsel

Vergangene Woche ließ Franziska Giffey, künftige Regierende Bürgermeisterin, im Fernsehen verlauten: „Ich finde es auch für Berlin wichtig, dass wir nicht so dahergeschlumpst kommen.“ Was steckt dahinter?

a) Jeder Berliner Haushalt erhält vom neuen Senat eine aktuelle Duden-Ausgabe für adäquate Ausdrucksweise.  
b) Politiker:innen sollten zwecks angemessener Repräsentation unserer Weltstadt auf ihren Kleidungsstil achten 
c) Alle Berliner:innen bekommen freien Zutritt zu Städtischen Sportstätten, um sich fit zu halten.
 

Schicken Sie uns die richtige Lösung und gewinnen Sie einen Checkpott.

Jetzt mitmachen

Encore

Wie zeitgemäßer Unterricht aussehen könnte, darüber macht sich ja so mancher in Pandemie-Zeiten mehr Gedanken als zuvor. So auch der AfD-Abgeordnete Franz Kerker in einer kleinen Anfrage mit dem Titel „Zeitgemäße Prüfungskultur und Lernerfolgskontrollen“.

Frage: „Inwiefern sind Leistung und Leistungsbewertung soziale Konstruktionen und was folgt daraus?“

Antwort der Bildungsverwaltung: „Aus mikrosoziologischer Perspektive stellen Leistungsunterschiede soziale Konstruktionen dar, die als Erklärungsansatz für Leistungsdisparitäten ernst zu nehmen sind.“

Frage: „Der Zukunftspodcast der Tagesschau fragte: ,Mal angenommen, es gibt keine Schulnoten mehr: Wer lernt dann noch?‘“

Antwort: „Es ist keine Frage des Abgeordneten erkennbar.“

Keine Frage, keine Antwort. Wieder was gelernt.

Heute für Sie unterrichtet haben Lotte Buschenhagen (Recherche) und Kathrin Maurer (Schrift und Form). Am Montag meldet sich hier wieder Chefdozent Lorenz Maroldt mit dem Dauerseminar „soziale Konstruktionen dieser Stadt“.

Bis bald!

Ihre Anke Myrrhe