Mehr als drei Monate nach der Bundestagswahl starteten am Sonntag CDU, CSU und SPD in ihre Sondierungsgespräche. „Wenn das schiefgeht, ist meine politische Karriere zu Ende“, zitierte die „Bild“ am Wochenende Martin Schulz - Horst Seehofer erwiderte demnach „Nicht nur deine“ (und meinte damit wohl Angela Merkel, die mit einem „Ich glaube, es kann gelingen“ Zuversicht zeigen wollte). Nach der Kennenlernphase ging’s gestern gleich ums Geld - das Wohlwollen für eine Neuauflage der immer kleiner werdenden Groko soll den Wählerinnen und Wählern mit 45 Milliarden Euro bis 2021 versüßt werden. Eine „gerechte Verteilung“ sei eine der Voraussetzungen dafür, dass die Deutschen „auch in fünf bis zehn Jahren in Wohlstand, Sicherheit und Demokratie“ leben könnten, erklärte die Kanzlerin. Hm, „gerechte Verteilung“? Wie lautet gleich noch der Wahlslogan der SPD: Mehr Zeit für Gerechtigkeit? Zeit für mehr Gerechtigkeit? Rechte Zeit für mehr Nichtigkeit? Ach, egal, schauen wir nach vorne…
…und freuen uns auf den Antrittsbesuch des neuen CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt in unserem exotischsten Dschungelcamp, dessen „linke Meinungsvorherrschaft“ alsbald von der „konservativen Revolution“ gerodet wird: „Deutschland ist nicht der Prenzlauer Berg“, hatte der Bayerische Löwe gebrüllt. Da hat er rechter, als er denkt: Der Prenzlauer Berg ist ein Vorort von Stuttgart mit Kehrwoche und Weckle. Bezirksbürgermeister Sören Benn lud Dobrindt deshalb jetzt auf einen Latte Macchiato ein, „damit er sich davon überzeugen kann, dass in Wirklichkeit alles noch viel schlimmer ist“. Ob sich der konservative Revolutionär ins Gefahrengebiet wagt?
Revolutionär zeigt sich gerne auch der selbsternannte „Volkslehrer“ Nikolai N. - abends stört er Veranstaltungen mit Angela Merkel („Das ist keine Kanzlerin des deutschen Volkes, das ist eine Dienerin der Finanzeliten!“) oder Lea Rosh („Das hier ist Deutschland, die Ausländer müssen raus!“), nachts pflegt er auf seinem Youtube-Kanal Verfassungswiderstand („Das Deutsche Reich besteht weiterhin fort“), Verschwörungstheorien (die Mondlandung hat es nicht gegeben, Osama bin Laden hatte mit den Anschlägen vom 9.11.2001 nichts zu tun) und Antisemitismus („Die Geschichte des Holocaust ist eine Geschichte voller Lügen“), tagsüber unterrichtet er Englisch, Musik und Sport an der Vineta-Grundschule am Gesundbrunnen. Nachdem Sebastian Leber den Fall am Sonnabend im Tagesspiegel veröffentlichte, hat jetzt die Bildungsverwaltung Strafanzeige gegen den Lehrer gestellt und eine „Reichsbürgermeldung“ an die Innenverwaltung übermittelt.
Apropos Lernen: „Schuldistanz“ (Behördisch für Schwänzen) bleibt in Berlin eines der beliebtesten Hobbys: Mehr als 2100 Schüler der Klassenstufen 5 bis 10 haben im zweiten Halbjahr 2016/17 mehr als 20 Tage unentschuldigt gefehlt, 950 davon sogar mehr als 40 Tage. Ganz vorne ist Mitte: Nirgendwo anders fehlten die Kleinen öfter und länger. An Nikolai N. muss das nicht unbedingt liegen: Seine Schüler („90 % Migranten“) finden seine Thesen, vor allem die zu Juden, angeblich ganz interessant.
So, was noch… ach ja, klar: Am BER brauchen sie mal wieder mehr Geld, diesmal fehlt angeblich eine knappe Milliarde („BamS“). Thorsten Metzner hat für uns noch mal nachgerechnet und kommt auf 900 Millionen, von denen die Flughafengesellschaft allenfalls 300 bis 400 Mio selbst aufbringen kann. Pro Monat kostet allein die Nichteröffnung z.Zt. mindestens 25 Millionen (15 Mio Baukosten, 10 Mio Einnahmenverluste), macht 850.000 Euro am Tag, 35.000 Euro die Stunde - also während Sie hier in ein paar Minuten den Checkpoint durchlesen, versickern in Schönefeld ein paar Tausend Euro, tick, tick, tick, und auch wenn Sie fertig sind, geht’s immer weiter, tick, tick, tick…
Und wer zahlt das jetzt? Berlin hat’s ja eigentlich zurzeit, steckt aber seine „Siwana“-Mittel („Sondervermögen Infrastruktur der Wachsenden Stadt und Errichtung eines Nachhaltigkeitsfonds”) schon in marode Schulklos und kauft teuer die Grundstücke zurück, die vor ein paar Jahren vom Land billig verschleudert wurden. Außerdem wollen die Mitgesellschafter Brandenburg und der Bund nicht mehr, könnten sich aber eine Teilprivatisierung vorstellen, wogegen sich wiederum der Senat sperrt… Bis zur Aufsichtsratssitzung im März soll es Klarheit geben - verkürzen wir uns die Wartezeit mit diesem schönen Video hier über den Landeanflug von Raumschiff Enterprise auf den Flughafen Berlin-Brandenburg im Jahr 3745…
Telegramm
„Tempohomes“ heißen nicht Tempohomes, weil sie so schnell gebaut sind (oder dort Papiertaschentücher aufbewahrt werden), sondern weil sie temporär genutzt werden (Hinweis für Neuberliner: „temporär“ ist Berlinerisch für „dauerhaft“). 3000 Geflüchtete leben inzwischen in 12 solcher Tempohomes - wie es im größten davon zugeht, hat heute Michael Graupner im Tagesspiegel beschrieben.
Ein echtes Ärgernis sind Unternehmen, die wegen angeblicher Lademaßnahmen bei den Bezirken wochenlange Parkverbote beantragen, genehmigt bekommen - und dann dort nur einen Anhänger mit Werbeplakaten aufstellen. Einen besonders krassen Fall, bei dem ein Möbelgeschäft noch bis zum 18. Januar mit behördlichem Segen den Radweg blockiert, hat Markus Hesselmann recherchiert - seinen Bericht aus dem „Leute“-Newsletter Charlottenburg-Wilmersdorf finden Sie hier. Falls Sie ähnliche Fälle kennen - bitte per Mail an checkpoint@tagesspiegel.de.
Gruseltouristen in Beelitz? Für die Stadt ein Horror. Doch genau das wird passieren, wenn am 22. Februar der Film „Heilstätten“ in die Kinos kommt. Vielleicht gelingt es „Visit Berlin“ mit ein bisschen Marketing ja, vom Boom der Nachbarn zu profitieren - eine Fahrt mit dem M41 („Buslinie des Grauens“) dürfte auch für Hartgesottene einige Schreckmomente bieten.
Staatssekretärin Sawsan Chebli hält Pflichtbesuche in Konzentrationslagern für sinnvoll - wer in Deutschland lebt, sollte mindestens einmal im Leben dort eine Gedenkstätte gesehen haben, sagt sie. Friedhard Teuffel kommentiert: „Bevor ihr Vorstoß als Zwangsmaßnahme gegeißelt wird, wird hoffentlich sein ideeller Kern gerettet.“
Eine 94 Jahre alte Frau hat sich in der Charlottenburger Klaus-Groth-Straße (benannt nach dem Lyriker, nicht nach dem Bauunternehmer - zu letzterem gibt’s demnächst hier mehr) mit ihrem Automatik-Mercedes selbst überfahren und an der Hüfte verletzt. Der Checkpoint wünscht gute Besserung - und empfiehlt eine kritische Selbstprüfung, ob das mit dem Führerschein noch immer so eine gute Idee ist (oder ohne vielleicht die bessere wäre).
Bei dem 27-Jährigen, der auf der Stadtautobahn mit 161 Sachen rechts überholte (erlaubt ist Tempo 80) stellt sich diese Frage nicht: Sein Führerschein war gefälscht - echt ist nur die Gefahr, in die solche Fahrer für andere Verkehrsteilnehmer bedeuten.
Senatskanzleichef Björn Böhning scheint Meldungen wie die letzte eben (gibt’s täglich neu) allerdings falsch verstanden zu haben: Statt höherer Bußgelder für Raser fordert er solche für Radler, die trotz Radwegen auf der Straße oder dem Gehweg fahren - und dazu noch eine Helmpflicht für Kinder (sind offenbar gerade Pflichtwochen im Roten Rathaus). Die Zweiradlobby ist empört („Reaktionär“, „Vorschläge wie von Rechtspopulisten“), zumal Böhning die Radwegparker bei seiner Büßerinitiative vergessen hat. Aktivist und „Wegeheld“ Heinrich Strößenreuther forderte im Gegenzug eine Helmpflicht für Fußgänger und Autofahrer. Als Bahnfahrer fühlt man sich da doch glatt diskriminiert.
Apropos Fahrrad: Gut, wenn man sein Rad an Bügelstangen anschließen kann. Schlecht, wenn die Bügelstangen nicht angeschlossen sind - schauen Sie sich mal diese hier in der Steglitzer Schlossstraße an (direkt vorm Naturkaufhaus).
Die Meldung „H&M-Millionär trennt sich billig von seiner Frau“ passt immerhin zur Kollektion - in jeder Hinsicht. (Q: „BamS“)
Zahl des Tages: 44,7 Millionen Tage waren Arbeitnehmer in Berlin und Brandenburg 2016 krankgemeldet - am schlimmsten ist Marzahn-Hellersdorf dran (Krankenstand: 6,2 %), Friedrichshain-Kreuzberg kann dagegen mit 3,9 % bald den Zusatztitel „Bad“ und den Status als Kurort beantragen: Gesünder als unter Wohlfühlmeisterin Monika Herrmann lebt sich’s nirgendwo in Berlin. (Q: Zahlen der Krankenkassen via „B.Z.“)
Und jetzt - die Vorspannposaunen bitte: Wir suchen wieder eine Tagesspiegel-Leserjury für die Berlinale (15. bis 25.2.) - Bewerbungen mit Lebenslauf und unwiderstehlicher Begründung, gerne fantasievoll, nimmt ab sofort unsere Kulturredaktion entgegen unter tagesspiegel@berlinale.de, Stichwort „Leserjury“.
BER Count Up – Tage seit Nichteröffnung:
Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup hat das Wunder vollbracht: Am 31. Oktober 2020 ist der Flughafen BER offiziell eröffnet worden. 3.073 Tage nach der ersten Nicht-Eröffnung stellen wir damit unseren Count Up ein. Wer nochmal zurück blicken will: Im Tagesspiegel Checkpoint Podcast "Eine Runde Berlin" spricht Lütke Daldrup mit Tagesspiegel Chefredakteur Lorenz Maroldt und Checkpoint Redakteurin Ann-Kathrin Hipp über detailverliebte Kontrollen, politische Befindlichkeiten und aufgestaute Urlaubstage.
Zitat
"Pistole?! Da wo ick herkomme, aus Berlin-Neukölln, nennt man so wat EC-Karte."
Das kommt Ihnen bekannt vor? Richtig, ist schon ein bisschen älter und stammt von Kurt Krömer. Und warum steht das heute hier? Weil der Provo-Comedian ("Guck dich mal im Spiegel an, dit sieht doch aus wie schlimme Augenwurst") eine neue Sendung bei Radioeins bekommt, alles nach dem Motto: "Wir Berliner sind ja quasi die Erfinder der Freundlichkeit."
Tweet des Tages
"Ich wurde von einem SEHR erfolgreichen Geschäftsmann zu einem Top-Fernsehstar… zum Präsidenten der Vereinigten Staaten (im ersten Versuch). Ich glaube, das zeichnet mich nicht nur als schlau, sondern als Genie aus … und als sehr stabiles Genie dazu."
Antwort d. Red.: (Eine von mehreren Reaktionen des US-Präsidenten auf das Buch „Fire and Fury“ von Michael Wolf, in dem Trump als wankelmütig und unfähig dargestellt wird. Eine Rezension von Christoph von Marschall finden Sie hier)
Tweet des Tages
"Dann liegen Genie und Wahnsinn noch dichter beieinander als man dachte."
Antwort d. Red.: (Reaktion auf die Reaktion vom NDR-Satiremagazin „extra 3“)
Dazu passt auch noch die offizielle Erklärung von Twitter, warum jetzt zwar alle möglichen Tweets wegen Verstößen gelöscht werden, aber niemals die von Donald Trump (Spoiler: Es würden „wichtige Informationen“ versteckt).
Stadtleben
Essen & Trinken wie bei Oma. Bertrand Saxods Oma, um genau zu sein. Der Schweizer stand schon in seiner Kindheit oft mit ihr in der Küche und entlockte ihr die Geheimrezepte. Im Meuh kocht er nun ihre Suppen, Bretzeli, variantenreichen Crepes und ihren Apple Crumble nach, zu denen er Kaffee und selbstgepresste Säfte serviert. Auch der Name des Cafés, der Kuhlaut, ist eine Reminiszenz an die Schweiz, die nicht zuletzt für ihre Milchprodukte bekannt ist. Ein Bild der Namensgeberin hängt in der Reuterstraße 13 auch von der Decke, neben den goldbesprühten Baumästen und anderen Pflanzen, die zusammen mit den gemütlichen Sofas und Holzmöbeln eine heimelige Atmosphäre schaffen – apropos heimelig: Das verbaute Holz hat Saxod auch ganz regional auf Neuköllns Straßen gefunden. U-Bhf Rathaus Neukölln, Mo & Mi-Fr 8-18 Uhr, Sa-So 9-19 Uhr
Die Designerinnen Hanna und Julia wollen für eine nachhaltige Modebranche einstehen und etwas gegen die stetige Müllproduktion tun: Und zwar mit Jeans und Taschen. Also: Jeanstaschen (ab 39 Euro), wovon jede – ob Sporttasche, Mäppchen, oder Geldbeutel - handgefertigt und ein Unikat ist, das aus einer anderen Hose recycelt wurde. Ihr Label Dzaino hat ein Studio in der Heinrich-Heine-Straße 36 in Mitte, nachhaltig shoppen können Sie aber auch im Online-Shop.