Die Verkehrssenatorin möchte bekanntlich, dass ich wie alle anderen Berliner mein Auto abschaffe. Da so eine Entscheidung gut bedacht sein will, bin ich gestern mal mit dem Zollstock über die Oberbaumbrücke flaniert, deren Fahrbahn jetzt fertig saniert ist.
Die Einweihung geschah quasi per Presseinfo der Verkehrsverwaltung, Titel: „Oberbaumbrücke bekommt breite, sichere Radwege“. Statt 1,35 bzw. 1,6 sind es jetzt jeweils 2 Meter, stand da. Und statt je zweier Autospuren gibt es nun je eine, die aber 4,45 breit ist. Also genau so, dass sich ein Auto unter Mitnutzung des Radweges an einem anderen vorbeidrängeln kann, was die üblichen Verdächtigen auch tun. Aber Vorsicht im adipösen SUV: Die barrierefrei okkupierbaren Radwege sind gar keine 2 Meter breit, sondern nur gut 1,80. Abzüglich der Gullydeckel (die im SUV aber weniger poltern als im Sattel) bleibt für Radfahrer eine real nutzbare Breite von ca. 1,3 Metern. Die alte Berliner Radler-Regel, wonach mangels Überholmöglichkeit der Langsamste das Tempo bestimmt, gilt also weiter.
Mit ihrem neuesten Werk verstößt die Verkehrsverwaltung in mindestens vier Punkten gegen das Mobilitätsgesetz, das nicht ganz zufällig den Begriff „Gesetz“ im Namen trägt. Erstens sind die neuen Radwege zu schmal. Zweitens ist die Zusatzbreite der Autospuren nicht Fußgängern und Radfahrern zur Verfügung gestellt worden. Drittens fehlen Poller oder Ähnliches, die verhindern, dass Autofahrer auf den Radwegen fahren oder halten. Und viertens haben die Planer die Verkehrssicherheit („Vision Zero“ als Leitlinie der Planung) nicht ausreichend berücksichtigt.
Man könnte das als den üblichen Berliner Murks abtun, aber an dieser Stelle ist es ein Affront: Von den 18 automatischen Zählstellen war die Oberbaumbrücke (bis die Sensoren bei der Asphaltsanierung verschwanden) die mit dem stärksten Radverkehr; im Tagesmittel etwa 10.000 Radfahrer.
Hier wäre die Stelle gewesen, ein Zeichen für die neue Zeit zu setzen. Stattdessen zeigt die Verwaltung exemplarisch, wie egal ihr Verkehrssicherheit auch im Jahr 2019 ist. Der Beitrag zur sog. Verkehrswende besteht im Wesentlichen darin, dass die regeltreuen Autofahrer jetzt noch länger im Stau stehen, weil ihnen zum zweispurigen Fahren ein paar Zentimeter fehlen. Der Umbau der Oberbaumbrücke war eine Chance, rausgekommen ist Schikane
Was auf der Oberbaumbrücke im Großen versemmelt wird, passiert in den Kiezen im Kleinen: Auf der Straße, in der sich die Grundschule meines Kindes befindet, blockiert eine idiotische Kombi aus Laternen und Pollern den einzigen (für radelnde Kinder benutzungspflichtigen) Gehweg für alles, was breiter ist als ein Ranzen. Im September 2017 kündigte das Tiefbauamt Treptow-Köpenick die Umsetzung der Laternen fürs Frühjahr 2018 an. Tatsächlich wurden auf der anderen Straßenseite (wo es keinen Gehweg gibt, sondern nur Autoparkplätze) neue installiert – und die alten stehen gelassen. Der Unterschied zu 2017: Das Tiefbauamt antwortet jetzt nicht mehr auf Mails.
So bleibt das Elterntaxi die sicherere Wahl – und eine weitere Generation von Kindern wächst heran, die lernt, dass man alltägliche Wege sicherheitshalber im Auto zurücklegt. Diese Kinder haben die realistische Aussicht, Silvester 2100 mitzufeiern. Was heute vermasselt wird, hat also Langzeitwirkung.
Telegramm
Kleine Berlin-Statistik, Stand Freitag 16 Uhr: Zahl der Dealer, die mich auf meinem Spaziergang von der Oberbaumbrücke zum Görlitzer Bahnhof mehr oder weniger (überwiegend mehr) verbindlich gegrüßt haben: 63.
Zahl der in 2. Reihe, in Haltestellen oder auf Busspuren geparkten Autos, die dem M29er auf der Fahrt vom Görli ins Büro am Anhalter Bahnhof im Weg standen: 21.
Die Flughafengesellschaft teilt mit, dass der Rechtsstreit zwischen ihrem Chef Engelbert Lütke Daldrup und dem FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja beendet sei: „Gegenüber dem Gericht erklärte Herr Czaja rechtsverbindlich, die Äußerung, der Flughafenchef sei ein ‚notorischer Lügner‘, so nicht mehr zu tätigen. (…) Herr Czaja ließ erklären, dass er mit der Aussage nicht sagen wollte, dass der Flughafenchef wissentlich die Unwahrheit gesagt oder die Unwahrheit für möglich gehalten habe.“ Was Czaja dann mit dieser Aussage sagen wollte oder für möglich gehalten hätte, erklärten weder die Flughafengesellschaft noch Herr Czaja.
Der Xberg-F‘hainer Findlingsstadtrat Florian Schmidt muss den Bau des von seinem Bezirksamt bereits genehmigten Amazon-Hochhauses an der Warschauer Straße allein verhindern: Die von ihm um Hilfe gebetene Senatsbaudirektorin Regula Lüscher schrieb ihm, dass es keine Rechtsgrundlage für eine nachträgliche Entziehung des Baurechts gebe.
Falls Sie auch 2021 wieder Frank Steffel wählen wollten: Der CDU-Mann tritt nicht mehr an, wie er gestern mitteilte: „Meine internationalen unternehmerischen Aktivitäten sowie die Entwicklung meiner Unternehmen lassen eine politische Arbeit in Wahlkreis und Parlament nach Ablauf dieser Wahlperiode nicht mehr zu.“ Da bleibt einer auf dem Teppich.
Nachtrag zum möglichen Knabe-Untersuchungsausschuss (CP von gestern): Die Grünen-Abgeordnete Sabine Bangert schreibt, der nächste Ausschussvorsitz ginge nach dem regulären Verfahren nicht an die AfD, sondern an die Linke. Was im konkreten Fall durchaus seinen Reiz hätte.
Die S-Bahn ist bald auch nicht mehr, was sie mal war: Bei Tests in der Klimakammer in Wien konnten dem neuen Modell (fahrplanmäßige Abfahrtszeit: 1.1.2021 ca. 4 Uhr als S47) weder Sommerhitze noch Winterkälte – sogar mit Schnee! – etwas anhaben. Allerdings hat die Klimakammer ihr Wetter ohne die von DB Netz verantworteten Weichen und Signale gemacht.
Der Weihnachtsmarkt am Schloss Charlottenburg fällt in diesem Jahr aus, sofern sich Veranstalter Tommy Erbe und das Bezirksamt nicht bis Dienstag einigen. Erbes Versuch, die – wegen strittiger Auflagen und Kosten zur Sicherheit verweigerte – Genehmigung per Eilantrag vor Gericht zu erzwingen, ist gescheitert. Für viele Berliner wäre die Absage schade – und für manche Schausteller ein Drama.
Rund 1500 Amateurfußballspiele fallen an diesem Wochenende aus, weil die Schiedsrichter streiken – aus Protest gegen die zunehmende Gewalt, der sie auf dem Platz ausgesetzt sind. Nicht betroffen sind die Spiele der Profis, also Hertha gegen Hoffenheim und Union gegen Bayern. Da uns in der Nacht zu Sonntag die im März weggenommene Stunde erstattet wird, bleibt mehr Zeit zum Feiern, falls es was zu feiern gibt (Daumen sind gedrückt). Oder zum Nachdenken darüber, wie der kickende Nachwuchs so betreut werden kann, dass die Schiris nicht mehr streiken müssen.
Die „Berliner Zeitung“ und der „Kurier“ haben vorab beim „Institut für Spielanalyse“ geklärt, wie Union die Bayern besiegen kann: 1.) Über Zweikämpfe den Spielfluss hemmen, 2.) bei Balleroberung sofort kontern und 3.) darauf hoffen, dass Joshua Kimmich zum Ende hin die Puste ausgeht. So einfach ist das. Außerdem wissen die Blätter, dass im Zug nach München „ein DJ den Fans einheizen wird“. Wobei „einheizen“ ein gewagtes Wort ist nach der Rückfahrt der Freiburger Fans am vergangenen Wochenende (mehr dazu im Interview).
Wer lieber ein gutes Buch liest, kann es beispielsweise in einer der rund 20 „Bücherboxxen“ oder jeder anderen Ex-Telefonzelle finden, die zu mobilen Tauschbibliotheken umgewidmet wurden. Deren Erfinder Konrad Kutt wurde jetzt mit der Bürgermedaille Charlottenburg-Wilmersdorf ausgezeichnet.
Bester Freund und Helfer: Erika Wolff aus Westfalen schreibt, dass sie beim Berlin-Besuch vor zehn Tagen ausgerechnet auf der Stadtautobahn eine Reifenpanne hatte. Während sie vorsichtig auf dem Standstreifen weiterrollte, hupten andere sie gnadenlos an. Also stoppte sie lieber – und direkt hinter ihr sogleich die Autobahnpolizei. Ein Beamter passte nicht nur auf sie auf, sondern wechselte sogar das Rad!
Wie viele Stellen und Menschen erhalten eigentlich die Pressemails der Berliner Polizei? Mindestens 142, wie eine gestern wohl aus Versehen veröffentlichte Empfängerliste zeigt. In der Mail ging es übrigens um den Tag des Einbruchschutzes (So. 12-16 Uhr im Polizeipräsidium, Platz der Luftbrücke 6). „Auch in diesem Jahr ist wieder ein spektakulärer Einbruchversuch vorgesehen.“ Na dann: Viel Erfolg!
Ein Rat und eine Info für alle, die vom eigenen E-Roller träumen: Wachen Sie auf! Das war der Rat. Und hier die Info: Der Vermieter TIER verkauft generalüberholte Gebrauchtscooter, die vier Monate in Betrieb waren, für 699 Euro inkl. Helm sowie Versicherung und Gewährleistung für ein Jahr.
Falls Sie sich über den stundenlangen Stau auf dem westlichen Berliner Ring gestern Abend gewundert haben: Es war nur ein Wasserbüffel, der auf der Fahrbahn stand. Vermutlich ist er von der Nordsee her via Elbe und Havel zur Anschlussstelle Werder geschwommen (war Spaß). Die Polizei hat ihn abschleppen lassen und zur Nachschulung geschickt, StVO büffeln.
Mit dem Kindertraum vom Hochbett wird es nichts, aber dafür ist die neue Schlafstatt der Panda-Zwillinge ein Unikat: Zoo-Beschäftigte haben ihnen ein 2x1,5 Meter großes Kuschelbett aus Holz und Plexiglas gezimmert.
Durchgecheckt

Brandoberamtsrat Rolf Erbe ist seit 30 Jahren im Einsatzdienst für die Berliner Feuerwehr. An deren Akademie ist er außerdem zuständig für Aus- und Fortbildung zu Ereignissen mit besonders großem Schaden.
Einerseits gelten in Deutschland Brandschutzvorschriften, die die Eröffnung eines Flughafens um knapp zehn Jahre verzögern können, andererseits schlugen am vergangenen Wochenende meterhohe Flammen aus einem zuvor voll besetzten Waggon am Bahnhof Bellevue. Sind Sie als Fachmann manchmal selbst überrascht, wie heftig manche Dinge brennen können?
Wenn wir vor 20 oder 30 Jahren zu einem Feuer gefahren sind, war der Brand oft noch in der Entstehung begriffen. Jetzt erleben wir beim Eintreffen öfter Brände, die sich binnen weniger Minuten massiv ausgebreitet haben. Es brennt heftiger, weil mehr Kunststoffe vorhanden sind. Außerdem sind die Brandlasten umso höher, je mehr Dinge die Menschen haben, ob in der Wohnung oder als Gepäck in der Bahn. Die Brandschutzvorschriften etwa für Verkehrsmittel sind durchaus streng, aber sie garantieren eben auch nichts.
Haben wir im Falle des Fanzuges einfach Riesenglück gehabt, dass da nichts Schlimmeres passiert ist?
Tatsächlich hatten wir da in zweierlei Hinsicht Glück: Zum einen wäre ein Brand beispielsweise in einem Tunnel viel gefährlicher gewesen als auf freier Strecke. Zum anderen war die Bundespolizei bei den Fußballfans von Anfang an mit viel Personal vor Ort. So konnten die Beamten sofort die Menschen aus der Gefahrenzone leiten und gleichzeitig für deren Sicherheit sorgen, indem beispielsweise der Zugverkehr auf den Nachbargleisen sofort gestoppt und der Fahrstrom abgestellt wurde. Entsprechend schnell konnten wir mit dem Löschen beginnen. Zugleich hat der Fall gezeigt, wie wichtig eine ausreichende Personalausstattung ist: Wir wussten von Anfang an, dass in dem Zug 800 Menschen waren. Was wir zunächst nicht wussten, war die Zahl der Verletzten. Deshalb sind wir mit fast 80 Fahrzeugen und 220 Leuten angerückt. Die muss man erst mal haben! Solche Ressourcen bekommen wir nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit so schnell zusammen. Wir brauchen sie auch nicht ständig – aber es kann eben jederzeit passieren, dass wir ganz plötzlich darauf angewiesen sind. Daher ist die Unterstützung durch die Freiwillige Feuerwehr auch in Berlin unverzichtbar.
Halten Sie das Risikobewusstsein des Durchschnittsberliners der realen Gefahr für angemessen – oder anders gefragt: Sorgen sich die Leute beim Thema Brandschutz ums Richtige?
Nicht wirklich. Beim vorbeugenden Brandschutz sind wir gut, aber viele Opfer wären vermeidbar, wenn die Menschen besser informiert werden. Viele überschätzen beispielsweise die Strecke, die sie mit angehaltener Luft laufen können. Man glaubt, man schafft zwei Etagen durchs verrauchte Treppenhaus, aber dann beißt der Rauch, man muss husten, atmet ein – und ist nach drei Atemzügen bewusstlos und nach drei Minuten tot. Außerdem glauben die Leute, dass es immer nur die anderen trifft. Dabei gibt es auch in der eigenen Wohnung ganz neue Brandgefahren, etwa durch Ladegeräte und Lithium-Ionen-Akkus. Und als Zugpassagier möchte man auch nicht an böse Dinge denken – sollte man aber! Dann weiß man im Ernstfall nämlich, wo die Nothämmer hängen und wo Notausstiege sind. Wie weit der Glaube an die eigene Unverwundbarkeit geht, habe ich selbst schon von Falschparkern gehört: Die blockieren die Feuerwehrzufahrt und sagen, wenn man sie anspricht: „Bei mir brennt es nicht!“
Was sollte jeder im Hinterkopf haben, um sich vor einem Brand und dessen Folgen zu schützen?
Jeder sollte sich immer mal ganz bewusst ins Gedächtnis rufen, was im Ernstfall zu tun ist: Wenn es in der eigenen Wohnung brennt, verlässt man die Wohnung und ruft die Feuerwehr, aber man nimmt bitte den Schlüssel mit für die Feuerwehr und schließt die Tür, bis sie da ist. Wenn es in einer anderen Wohnung brennt, verlässt man das Haus nur dann, wenn im Treppenhaus kein Rauch ist. Wenn doch, wartet man möglichst in der Wohnung auf die Feuerwehr. Eine Wohnungstür, auch massive Holztür, oder eine hölzerne Decke widerstehen einem Brand durchaus eine halbe Stunde lang.
Gibt es speziell in Berlin so etwas wie einen Alptraum aus Sicht der Feuerwehr – etwa die zugeparkten Wohnstraßen, fehlende Rauchwarnmelder oder vielleicht die nicht durchweg taufrische Ausrüstung Ihrer Kolleginnen und Kollegen?
Rauchwarnmelder sind nicht alles, aber sie retten Leben. Es gibt keinen Grund, sie nicht zu installieren. Es ist ein fataler Irrtum, wenn Leute glauben, sie würden von nächtlichem Brandgeruch wach: Zuerst wirkt das Kohlenmonoxid, von dem man bewusstlos wird. Was die zugeparkten Straßen betrifft, haben wir in der Tat oft Probleme, weil Drehleiterfahrzeuge nicht um die Kurven kommen oder zwischen den Autos gar kein Platz mehr bleibt, um unsere Gerätschaften aus den Einsatzfahrzeugen zu holen. Auch verkehrsberuhigte Bereiche sind für uns hoch problematisch: Fahrbahnschwellen kosten uns Zeit und sind für Patienten im Rettungswagen extrem kritisch. Außerdem wird auch hier oft so geparkt, dass wir nicht durchkommen. Und allen Verkehrsteilnehmern sei gesagt: Wir fahren nicht aus Spaß mit Blaulicht.

Wochniks Wochenende
Die besten Berlin-Tipps für drinnen, draußen und drumherum.
48h Berlin
Samstagmorgen geht es gleich ums große Ganze. Für den Philosophen Baruch Spinoza war alles Kleine und Partikulare stets Ausdruck des Seins an sich, eines einzigen, übergeordneten Seins, des großen Ganzen. Wer sich auf das Sein spezialisiert, spezialisiert sich auf alles. Und wer alles einmal zeigen möchte, macht klassisch eine Weltausstellung, wie sie aktuell in der Philipp-Schaeffer Bibliothek in Mitte zu sehen ist (Brunnenstraße 181, ab 10 Uhr) Ausgestellt werden 100 dem Vernehmen nach gute Bücher aus dem Verbrecher-Verlag, die hier und sicherlich auch nebenan in der Ocelot-Buchhandlung erhältlich sind. Letztere bietet zudem sehr guten Kaffee.
Samstagmittag – Alles, zumindest alles, was sich bewegt, sei es auf der Erde oder in der Atmosphäre, induziert nebenbei elektrische Ströme, die früher oder später auch in den Erdboden gelangen. Die Ladungen des Planeten und ihre Bewegungen sind messbar und der Künstler Raviv Ganchrow hat eine Apparatur in den Erdboden am Moabiter ZK/U versenkt, die eben diese Ströme abnimmt. Das alles umfassende Signal dieser sogenannten tellurischen Ströme wird in seiner Klanginstallation „westhafen ground-electric“ hörbar gemacht, und auf eine Reihe von Lautsprechern im Ausstellungsraum verteilt. Aktivitäten der näheren Umgebung, der Berliner Stromversorgung bis hin zu Gewitterblitzen, die tausende von Kilometern entfernt in den Boden einschlagen und deren Ladungen in Lichtgeschwindigkeit durch die Erde rasen, werden hörbar. Spinozisten nennen das die Univozität des Seins. Do-So, 14-19 Uhr, Siemensstraße 27 (U-Bhf Birkenstraße oder S/U-Bhf Westhafen), Eintritt frei
Samstagabend – Was Menstruationsblut, Leni Riefenstahl, Sprühkleber und Motten gemein haben? Nach Spinoza sind auch sie natürlich Emanationen des Seins. Ganz so schnell fertigt das Kollektiv Reflektor das Thema allerdings nicht ab. Die Gruppe hat sich mit dem Knüpfen von Verbindungen zwischen auch maximal disparaten Gegenständen beschäftigt und stellt die Resultate in Malereien, Skulpturen, Live-Performances und Videoinstallationen aus, sorgt außerdem für Verpflegung und Gesprächsatmosphäre. Entbehrliche Mitbringsel von Gästen werden in ein im Laufe des Abends entstehendes Kunstwerk eingebaut – wer also der Kunstwelt seinen eigenen Stempel aufdrücken möchte, bringe ihn heute Abend einfach mit in die Weisestraße 27 in Neukölln (U-Bhf Leinestraße).
Sonntagmorgen – Um Alles oder Nichts geht es oft genug auch in Liebesangelegenheiten, wie die Komponistin Chaya Czernowin ab 11 Uhr musikalisch verdeutlicht: Sie führt bei der Matinee in der Deutschen Oper (11 Uhr, 8 Euro) anhand von Liebesliedern durch die Jahrhunderte der abendländischen Musikgeschichte und stimmt das Publikum schon mal auf die kommende Uraufführung ihrer Oper „Heart Chamber“ ein, die in drei Wochen folgt. Für Spinoza war das Gefühl übrigens eine Art unklare Erkenntnis und damit schon ziemlich nah dran an Vorstellungen vom Wissen. Um multimodale „Formate der Wissensproduktion“ geht es auch im Haus der Statistik, außerdem um „Spiele als Stadtforschung“ und um die „Offenheit der Form“ – und all das anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Polnischen Republik. Wie das alles zusammenhängt, ist von 10 bis 16 Uhr im Haus der Statistik, Otto-Braun-Straße 70-72 in Mitte (S/U-Bhf Alexanderplatz) zu erfahren.
Sonntagmittag – Um den Ablenkungen der Moderne zu entkommen und dem bloßen Sein auf die Spur zu kommen, hat es schon viele Dichterinnen und Denker in die Natur gezogen. Im Botanischen Museum werden einige Grundelemente menschlicher Existenz in einem künstlerischen Programm unter dem Titel, „Licht Luft Scheiße“ beleuchtet. Von 15 bis 16 Uhr gibt es eine Kuratorinnenführung durch die Ausstellung, die damit endet (das Museum bleibt danach wegen Sanierung bis vsl. Ende 2022 geschlossen). Schon bei Henry David Thoreau hatte der Rückzug in die Natur übrigens nichts Romantisches an sich: Dessen Hütte im Wald diente einer klar definierten philosophischen Reflexion über das Sein. Eine spinozistische Note schwingt übrigens immer mit, wenn man die Natur als Komplex unzähliger Kreisläufe denkt, in dem alles mit allem zusammenhängt.
Sonntagabend – Da seine Ideen ihm im 17. Jahrhundert kaum Freunde bescherten, wurde Spinozas Leben mehrfach bedroht, er wurde verstoßen, musste untertauchen und aus Amsterdam fliehen. Denn wenn alles gleichermaßen Ausdruck desselben Seins ist, lassen sich keine Hierarchien rechtfertigen, alles rückt mit allem auf Augenhöhe – Herrscher werden Mitmenschen, die Bibel einfach ein Buch. In diesem emanzipatorischen Sinne tritt auch das Ensemble Xenon im Ausland auf (20 Uhr, Lychener Straße 60, Prenzlauer Berg, Eintritt: 9 Euro). Benannt nach dem Edelgas Xenon, das mittlerweile zur Ausleuchtung von Fahrbahnen verwendet wird und vom Altgriechischen ξένος stammt, was auf deutsch „fremd“ bedeutet, hat es einen edlen Klang, mit dem es die Randbereiche des musikalischen Empfindens ausleuchtet und den Anspruch, sein Publikum stets mit einer Note Fremdheit zu konfrontieren. Entsprechend hat es bereits zahlreiche Stücke verschiedener Komponistinnen uraufgeführt. Das heutige Programm aber heißt „in our own speech“ und der Name ist Programm: „Eigene Sprache“ bedeutet hier improvisierte Musik, die sich keiner kompositorischen Macht beugt. Und da improvisierte Musik im Vorfeld stets unbekannt ist, gibt es hiermit ein offenes Wochenendeende.
Mein Wochenende mit

Der Künstler Raviv Ganchrow macht in seiner Klanginstallation westhafen ground-electric im ZK/U tellurische Ströme aus der ganzen Welt hörbar.
Freitagabend eröffnet meine Ausstellung westhafen ground-electric im Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U) in Moabit und das ganze Wochenende werde ich mit der Dokumentation verbringen, Fotos machen, Video und den Ton aufzeichnen. Man muss wissen, dass es in meiner Klanginstallation kein klassisches Kunstobjekt gibt, das man einfach einpacken und anderswo wieder aufstellen könnte. Die Arbeit ist aufs Engste mit dem Ort verbunden. Ich habe auf dem ZK/U-Gelände eine Apparatur verbaut, mit der ich sogenannte tellurische Ströme messe. Bei jeder Muskelbewegung, jedem Flügelschlag eines Insekts, Photosynthese, Änderungen in der Ionosphäre und den meisten technischen Vorgängen ist Elektrizität im Spiel und bei alledem fließen auch Ladungen in den Erdboden ab, die als eine Art Rauschen die tellurischen Ströme überlagern. Viele der Frequenzen liegen schon im Hörbereich – man muss im Grunde nur einen Lautsprecher anschließen, um sie hörbar zu machen. In dem Signal ist also abstrakt ganz Berlin zu hören, aber auch zum Beispiel Blitzeinschläge, die mehrere tausend Kilometer entfernt einschlagen können. Hier fließt also quasi die ganze Welt zusammen, aber nur an diesen genauen Koordinaten in Moabit klingt sie genau so. Ein bisschen erinnert das an die Geschichte des Ortes. Am Westhafen kamen Güterschiffe aus der ganzen Welt zusammen, deren Fracht hier auf Züge verladen und auf die Umgebung verteilt wurde. Heute ist das Gelände öffentlicher Raum, die ganze Nachbarschaft kommt hier zusammen – und meine Installation bringt vielleicht ein wenig des Gefühls von Weite zurück, das solchen Orten des Transits stets innewohnt.
Leseempfehlungen
„Wer den Lärm gern mag, den Musik im Allgemeinen erzeugt, selbst aber nur wenig von Musik versteht, kann dieses Buch lesen“, schreibt Nicholas Lezard im Guardian über The Rest is Noise – Das 20. Jahrhundert hören (2007). Es ist also nicht nur für ein Fachpublikum geeignet sondern verständlich und mitreißend geschrieben. Kein Wunder, der Autor heißt schließlich Alex Ross, hat seine Feder an zahlreichen für den New Yorker verfassten Musikkritiken geschärft und dürfte zu den weltweit bekanntesten Musikvermittlern der Gegenwart zählen. Das Buch erzählt die Geschichte des 20 Jahrhunderts in Klängen, die es mit sprachlichen Mitteln illustriert, die auch in der Übersetzung von Ingo Herzke funktionieren – für FAZ Rezensent Wolfgang Sandner eine Gratwanderung. Das Maß der Dinge in Sachen Versprachlichung von Musik dürfte aber nach wie vor vom Londoner Schriftsteller Kodwo Eshun stammen. Statt der phonetischen Annäherung an Instrumentalklänge, versucht Eshun die ganzheitliche, körperliche Erfahrung zu evozieren, die normalerweise nur das Musikhören, speziell das Hören afrofuturistischer Musik erzeugt. Das brilliante „More brilliant than the Sun“ (1998) hat seinem Autor eine Stelle an der Goldsmith University und zahlreiche Reisen zu Fachpanels, Konferenzen und Vorträgen rund um die Welt verschafft – der schwierigen Übersetzung von Eshuns Klang-Sprachkosmos ins Deutsche hat sich Dietmar Dath angenommen, „Heller als die Sonne“.
Wochenrätsel
Welche Farbe haben die Außentüren der erneuerten S-Bahnzüge, die seit Dienstag wieder im Einsatz sind?
a) rot
b) schwarz
c) regenbogenfarben
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30 Jahre, 30 Tage – bis zum Mauerfalljubiläum am 9. November werfen wir an dieser Stelle einenBlick zurück auf die letzten Tage der DDR: Am 26. Oktober 1989, 14 Tage vor dem Fall der Mauer, findet das erste Telefongespräch zwischen Bundeskanzler Kohl und dem neuen SED-Vorsitzenden Krenz statt. Man will politisch zusammenarbeiten. Günter Schabowski trifft sich unterdessen als erster SED-Politiker mit den Mitbegründern der demokratischen Bürgerbewegung „Neues Forum“. Das Gespräch verläuft „sachlich und konstruktiv“, wie der beim Gespräch anwesende Professor Jens Reich berichtet. Schabowski wolle eine „neue Politik und sich über die Breite des politischen Spektrums informieren“. Ob es einen echten Dialog zwischen Opposition und DDR-Führung geben kann, bleibt unklar. Allerdings habe er „positive Hinweise“ erhalten, dass die DDR-Führung bei künftigen Wahlen anders verfahren wolle als bisher, sagt Reich.
Wir wünschen Ihnen ein schönes Wochenende und einen echten Dialog mit ihren Liebsten,
