Nach einer „Woche der Enttäuschung“ (Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter) beginnt heute die Woche der Entscheidung: Bis Freitag früh sollen die schwarz-gelb-grünen Sondierer ein 10-Seiten-Papier als Grundlage für Koalitionsverhandlungen zusammenstöpseln. Ein „Berg von Problemen“ (Horst Seehofer) muss bis dahin abgetragen werden, FDP-Chef Christian Lindner sieht die Chancen bei 50 zu 50, Jürgen Trittin fasst den Spielstand zusammen: „Für die Grünen steht es 0:10“. Mangels inhaltlichen Fortschritts konkurrierten die beteiligten Mannschaften in der Frage, wer am wenigsten Angst vor einem Wiederholungsspiel (genannt Neuwahlen) hat. Die Begeisterung des Publikums (genannt Wähler) dürfte sich in engen Obergrenzen halten.
Weiter geht’s mit den Meldungen aus Berlin…
… und den Ergebnissen vom Parteitag der Hauptstadt-SPD:
1. Michael Müller gegen Raed Saleh 0,9 zu 0,8.
2. Der Porno-Antrag der Jusos (Förderung feministischer Sexfilme) wurde in die Arbeitskreise Bildung, Gesundheit und Kultur verwiesen.
3. Den Leitantrag des Vorstands degradierten die Delegierten zum „Impulspapier“.
Es kommentiert Ursula Fehling aus dem SPD-Kreisverband Pankow: „Erinnert ihr euch noch an den Wahlkampf 2011? Da sind wir angetreten mit dem Slogan 'Berlin verstehen'. Das war ein Super-Wahlkampf, der hat Spaß gemacht, und ich hatte zum letzten Mal hier in Berlin das Gefühl, dass wir eine Wahl wirklich gewonnen haben. Stellt euch mal vor, wir würden im Jahr 2017 antreten mit dem Slogan 'Berlin verstehen'. Die Stadt würde sich totlachen, im besten Fall.“
1000 Euro zusätzlich bekommen Berliner Abgeordnete pauschal und steuerfrei jeden Monat für den Betrieb eines „Bürgerbüros“, unabhängig von tatsächlichen Kosten und Nutzen, einzige Voraussetzung: Es muss ein Mietvertrag vorgelegt werden. Die „Morgenpost hat mal genauer hingeschaut, das Ergebnis der aufwendigen wie aufschlussreichen Recherche von Ulrich Kraetzer und Martin Nejezchleba ist parteiübergreifend erschreckend: Kaum auffindbare Geheimbüros, Verquickung mit Parteistrukturen, Familienbande, Falschangaben, Minimieten, Sammeladressen, Leerstand…
… also alles so ähnlich wie im echten Leben, wo sich die Vertreter der Parteien, deren Abgeordnete sich hier auf dem Immobilienmarkt ein schönes Nebengeschäft ertricksen, in hohem Ton über trickreiche Vermieter empören. Die ganze Geschichte mit 8 Fallbeispielen gibt’s hier.
Die Verrisse der Volksbühnen-Premiere von Chris Dercon (mit „Live-Situationen“ von Timo Sega und drei Beckett-Einaktern) sind deutlich unterhaltsamer als die Premiere selbst: „Was hier passierte, war eine Veralberung des Publikums, eine Beleidigung den Darstellern gegenüber“ (Simon Strauss, FAZ); „Wo bleibt die Sinnenfreude? Wo die Leidenschaft, die Lust? Eine unfrohe Eröffnung, eine Geisterbeschwörung, eine Fehlzündung“ (Christine Dössel, SZ); „Was genau soll das? Sollen wir jetzt irgendwas machen, etwa mitmachen? Mitsingen? Mitlaufen?“ (Dirk Peitz, Zeit Online); „Es ist alles nicht dumm, aber leider noch langweiliger als ein Museumsbesuch“ (Jan Küveler, Welt); „Das alles wird in einer Ernsthaftigkeit zelebriert, die etwas verdammt Lebloses hat“ (Anke Dürr, Spiegel); „Es ist ein mittelgroßer Bluff, man ist unangenehm berührt - es wirkt wie eine Sektenveranstaltung“ (Rüdiger Schaper, Tagesspiegel). Das muss man offenbar gesehen haben.
Sie erinnern sich an die verzweifelten Versuche, den überfluteten Gleimtunnel wieder zu eröffnen? Nach sechsmonatiger Verspätung waren Anfang des Jahres zwar die Bauarbeiten beendet, aber dann übernahm die Bürokratie: Der Stadtrat von Pankow wartete zur Freigabe der neuen Verkehrsführung auf eine Anordnung vom Bezirksamt Mitte, das Bezirksamt Mitte verwies auf die Zuständigkeit der Verkehrslenkung des Senats, der Senatsverwaltung war die Straßenbeleuchtung zu dunkel und sie gab die Sache zurück an den Stadtrat von Pankow, der aber noch auf die Anordnung vom Bezirksamt Mittewartete… Irgendwann im Januar räumte eine entnervte Autofahrerin dann einfach die Absperrungen weg, und es war geschafft. Bei der neu gepflasterten Verkehrsführung handelt es sich übrigens um einen Kreisverkehr, der jetzt mit ortstypischer Verspätung pünktlich zum närrischen 11.11. vor Lachen zusammengebrochen ist (Beweisfoto hier).
Per ganzseitiger Anzeige in der „Bild“ sucht eine Frau nach ihrer grauen Brioni-Wildledertasche mit Schmuck und Papieren, die sie seit einem Besuch bei „Tokyo Sushi“ im Hauptbahnhof vermisst, Belohnung: 30.000 Euro. Resonanz bisher: 0. Noch weniger erfolgversprechend dürfte ihre Anzeige bei der Polizei sein - warum, beschreibt Julius Betschka in der „Morgenpost“: „Derweil bestätigte die Berliner Polizei, dass an dem entsprechenden Tag eine Anzeige wegen des Diebstahls einer Aktentasche eingegangen sei. Allerdings sei diese bei der Bundespolizei gestellt worden, da der Hauptbahnhof in deren Zuständigkeit fällt. Die Bundespolizei wiederum hätte den Fall dann an die Landespolizei übergeben. ‚Die Anzeige ist gerade noch in Papierform auf dem Weg zu uns‘, teilte ein Polizeisprecher mit. Die elektronischen Systeme der Bundespolizei seien nicht mit denen der Berliner Polizei kompatibel. Deshalb könne man - auch eine Woche nach dem Diebstahl - zu weiteren Details noch keine Auskunft geben.“ Checkpoint-Analyse: Die Brieftaube hat in Berlin eine große Zukunft.
Telegramm
Weil die Arbeitsagentur sich die Geldautomaten spart, gibt’s nächstes Jahr Hartz IV im Supermarkt an der Kasse - Checkpoint-Tipp: Achten Sie auf die Sonderangebote.
Die Humboldt-Uni trickst bei der Besetzung von Vollzeit-Stellen: Sie setzt Studierende in der Verwaltung ein, beschäftigt sie aber arbeitgebergünstig als „studentische Hilfskräfte“ - laut Hochschulgesetz dürfte sie das nur bei „direkten Wissenschaftsbezug“. Im Akademischen Senat dürfte es morgen deshalb zur Abwechslung mal wieder etwas lauter werden.
Erleuchtung des Tages: Die Reste des Gaslaternen-Museums ziehen vom Tiergarten ins Technikmuseum um - kleiner Nachteil: Das hat nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen (oder war das jetzt der Vorteil?).
Neues von Berlins maroden Schulen: Die Lehrer der Carlo-Schmid-Schule (auch unter dem Namen Chaos-Schmid-Schule bekannt) wollen heute mit Atemmasken zum Unterricht erscheinen - die Senatsverwaltung kann für die Sanierung des unter Schadstoffverdacht stehenden Schrottgebäudes „leider noch keinen Fahrplan nennen“.
Das Hotel Café Wildau am Werbellinsee („mit toller Lage“) sucht per ebay-Anzeige „Zimmermädchen (m/w)“ - ob auch die Jungs Röckchen tragen müssen, erfragen Sie bei Interesse bitte selbst.
In die Mappe mit dem Titel „Dumm gefahren - demnächst gelaufen“ sortieren wir heute die Meldung „Raser überholt Polizei“ - als die Ordnungshüter wieder aufgeschlossen hatten, maßen sie ein Tempo von 151 km/h (erlaubt waren 80).
Zur Reihe „Berlin, aber Schnauze“ - Durchsage in der U1: „Alle rein, damit wir fahren können, sonst heißt es: alle aussteigen - und ick fahr alleene weiter. Da bin ick dann ganz traurig drüber.“ (gehört von Antje Merten).
Das Motto des Tages kommt heute vom Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter: „Wer eine klare Konzeption von dem künftigen Berlin hat (…), weiß, dass wir auf dem Weg sind, der uns ganz langsam aus der Wirrnis herausführen wird.“ (OTD 1947)
Die Berliner Fotografin Judith Bader mag „Lost Places“ und hat folgerichtig den BER („Europas schönster Flughafen“, Eigenwerbung bis 2012) als hervorragende Kulisse entdeckt: Für ein Kunstprojekt schickte sie u.a. ein nacktes Model mit Rollkoffer über den Willy-Brandt-Platz - bis ein Sicherheitsmann einschritt und „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ monierte (Q: „Berliner Zeitung“). Mangels Eröffnung fehlt allerdings am Tatort die zu erregende Öffentlichkeit. Der BER bleibt also bis auf Weiteres selbst das Ärgernis - und zwar ein öffentlich finanziertes. (Ausstellung der Bilder in der Galerie Pharo Dercks)
Apropos BER: Wer auf der Website neueröffnung.info „Schönefeld“ eingibt, erfährt, dass hier heute der „Sonderpreis-Baumarkt“ eröffnet wird - und am 17.9.2019 unser Lieblingsflughafen. Ist aber noch geheim, also bitte nicht dem Flughafenchef verraten.
BER Count Up – Tage seit Nichteröffnung:
Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup hat das Wunder vollbracht: Am 31. Oktober 2020 ist der Flughafen BER offiziell eröffnet worden. 3.073 Tage nach der ersten Nicht-Eröffnung stellen wir damit unseren Count Up ein. Wer nochmal zurück blicken will: Im Tagesspiegel Checkpoint Podcast "Eine Runde Berlin" spricht Lütke Daldrup mit Tagesspiegel Chefredakteur Lorenz Maroldt und Checkpoint Redakteurin Ann-Kathrin Hipp über detailverliebte Kontrollen, politische Befindlichkeiten und aufgestaute Urlaubstage.
Zitat
„Wir haben auch viel Quatsch gemacht.“
Polizeipräsident Klaus Kandt über seine Ausbildungszeit. Was er vom heutigen Nachwuchs hält, hat er meinem Kollegen Hannes Heine erzählt.
Tweet des Tages
„Kein Karneval in Berlin, das amtierende Prinzenpaar flüchtet nach Düsseldorf. Vielleicht die beste Lösung.“
Antwort d. Red.: (Zum Bericht über die Absage des Zuges geht’s hier)
Stadtleben
Essen Dass deftige Hausmannskost auch ganz ohne Fleisch auskommt, zeigt das bunte Veggie-Büffet in der Seerose am Südstern eindrucksvoll. Die herzhaften Gemüseaufläufe (Kürbis-Kartoffel-Auflauf in Tomatensoße oder Rosenkohl mit Wasserkastanien in feiner Rahmsoße) kombiniert man mit raffinierten Salaten, wie dem geraspelten Möhrensalat mit ganzen Mandeln, Rosinen und Sesam oder roter Beete verfeinert mit Koriander und Nüssen zu einem Teller. Der Mittlere (7,50 Euro) mit drei warmen Gerichten und zwei Salaten ist schon mehr als ausreichend für ein sättigendes Wohlgefühl, das man sonst von Besuchen bei Oma kennt. Körtestraße 38 in Kreuzberg, Mo-Sa 10-24 Uhr, So 12-24 Uhr.
Trinken im Tee Tea Thé, das Robert Scholz 1997 eröffnete, um dem heißen Aufgussgetränk, das lange sein Dasein im Schatten des beliebteren Kaffees fristete, mehr Renommee zu verschaffen. Seitdem serviert er im schlicht eingerichteten Teehaus mit anliegender Fachhandlung in der Goltzstraße 2 in Schöneberg Teesorten vom klassischen Pfefferminztee bis zum libanesischen Zimttee oder Mizudashi, ein erfrischender Kaltaufguss eines Tokujou-Sencha. Weitergegeben wird die Tee-Expertise seit rund einem Jahr übrigens auf Teeseminaren mit Verkostung (19,90 Euro), das nächste ist am 15. Dezember. U-Bhf Eisenacher Straße, geöffnet Mo-Sa 9-19 Uhr, So 10-19 Uhr.
Berlinbesuch kommt reingeschneit? Dann kramen Sie die Schlittschuhe aus und schwingen gemeinsam die Kufen über die Eisbahn Rübezahl am Müggelsee (Müggelheimer Damm 143). Wem zu Beginn der Eislauf-Saison auffällt, dass er keine eigenen Schlittschuhe besitzt, kann sich vor Ort ein Paar ausleihen (4 Euro), um dann in der rundum verglasten Halle mehr oder weniger sportlich übers Eis schlittern. Laufzeiten (je 6 Euro) von Mo-So 10-12.30 Uhr, 13-16.30 Uhr & 17-19.30 Uhr.