Es vergeht kein Tag in Berlin, ohne dass Radfahrer Opfer von Autofahrern werden – nach dem immer gleichen Muster: Entweder passiert es beim Abbiegen oder beim Türöffnen. Jetzt traf es eine Fünfzehnjährige auf der Baseler Straße in Lichterfelde: Ein Mercedesfahrer riss rücksichtslos seine Tür auf und verletzte das Mädchen schwer – oder, in der Sprache der Polizei: „erfasste“ sie.
Konkretes, individuelles Fehlverhalten kann die Politik nicht verhindern – aber die strukturellen Mängel im Straßenverkehr sind so offensichtlich wie tödlich: In diesem Jahr starben bereits doppelt so viele Radfahrer nach Unfällen wie im gesamten vergangenen Jahr (CP v. 22.8.). Und das Gefahrenbewusstsein, das einen Autofahrer dann vielleicht doch vor dem Öffnen der Tür oder dem Rechtsabbiegen genauer nach hinten schauen lässt, wächst mit einer erkennbar veränderten Infrastruktur – oder eben auch nicht. Und das Verständnis von Autofahrern für das Fahrverhalten von Radfahrern wächst mit der Erkenntnis, wie lebensnotwendig Abstand ist: aus Sicht des Autofahrers beim Überholen, aus Sicht des Radfahrers beim Passieren parkender Wagen. Denken Sie beim nächsten Mal daran, bevor Sie drängeln oder hupen: Die Radfahrerin vor Ihnen fährt nicht so weit links Richtung Straßenmitte, weil sie Sie provozieren will, sondern weil sie zu Recht Angst davor hat, plötzlich von einer Tür zu Boden gerissen zu werden – alle fünf Meter wieder.
Und wie steht’s mit der Infrastruktur in Berlin, fast vier Jahre nach der Wahl von Rot-Rot-Grün und mehr als zwei Jahre nach der Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes?
+ An allen Hauptverkehrsstraßen sollen breite Radverkehrsanlagen mit sicherem Abstand zu parkenden Pkw eingerichtet werden – von 1500 km sind gerade mal 100 fertig (ein Viertel davon provisorisch).
+ 120 km Radwege sollen grün werden – geschafft wurden gerade mal 30.
+ Ein zentrales Mängelregister sollte innerhalb von zwei Jahren entstehen, um Schäden an Radwegen und besonders gefährliche Passagen „möglichst unverzüglich“, jedenfalls aber „innerhalb von sechs Monaten“ beseitigen zu können – es gibt das Register bis heute nicht.
+ Ein Radverkehrsplan sollte ebenfalls innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes vorliegen – er ist bis heute nicht da.
+ 130 km Radschnellverbindungen sollen geschaffen werden – doch noch nicht einmal die Planungen haben begonnen, als Baubeginn wird jetzt 2022 genannte, jedenfalls „nicht früher“.
Als Benjamin Konietzny von n-tv am vergangenen Mittwoch die Verkehrsverwaltung um eine Stellungnahme zum Stand der Dinge bat, bekam er bis Freitagnachmittag keine Antwort – sein Beitrag („Wie die Verkehrswende der Grünen scheitert“) erschien auch so (wenn auch mit kleineren Mängeln – es sei denn, der SPD-Abgeordnete Kohlmeier hat einen Doppelgänger mit dem Namen Kohlmann).
Dem Tagesspiegel sagte Verkehrssenatorin Regine Günther, dass sie nicht glaubt, dass sich Berlin zu langsam verändert:„Was wir noch nicht geschafft haben, ist der vollständige Umbau einer Stadt, deren Verkehrspolitik in den vergangenen 70 Jahren auf die Privilegierung von Autos ausgerichtet war.“ Günther kündigte für den Herbst das Konzept zum Umbau der Straße Unter den Linden an: „Gehen Sie davon aus, dass der Fußverkehr, der Radverkehr und der ÖPNV genug Raum erhalten.“ Das ganze Interview können Sie hier lesen.