es ist der 9. November, und wir erinnern uns – aber woran? An das, was wir selbst erlebten? An das, was uns andere erzählten? An Fotos, die wir gesehen und an Geschichten, die wir gelesen haben?
Der 30. Jahrestag des Mauerfalls markiert eine Zäsur: Es beginnt die Zeit der Revision aus zweiter und dritter Hand. Die Geschichte wird nicht umgeschrieben, noch nicht; aber sie wird umgedeutet, neu vermessen, nach dem Abstand der Zeit und der Versuchung des Vergleichs.
Der 81. Jahrestag des Pogroms steht im Schatten einer Mauer, die nicht mehr steht – nicht nur, weil heute Sabbat ist und eine Gedenkfeier deshalb gestern war. Vor dem jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße verlasen Berlinerinnen und Berliner die Namen von 55.696 Menschen, die in dieser Stadt lebten, bis sie von den Nazis ermordet wurden. Sie sollen nie vergessen werden. Aber sie werden verdrängt, Jahr für Jahr mehr.
Niemand fragt heute mehr: „Was hast Du am 9. November 1938 getan?“ Wen auch?
Aber auch, wer heute fragt: „Was hast Du am 9. November 1989 getan?“, bekommt oft schon keine Antwort mehr (von unter 30-Jährigen) oder nur eine vage (von unter 40-Jährigen) – oder auch eine falsche (von allen, die älter sind).
Der Soziologe Harald Welzer erinnerte am Donnerstagsabend beim „Fest der Meinungsfreiheit“ in der Volksbühne (veranstaltet vom Tagesspiegel, der Berliner Zeitung und der Bundeszentrale für politische Bildung) an seine Zeit als Gedächtnisforscher. Welzers These: Gehen Sie davon aus, dass das Meiste, an das Sie sich zu erinnern glauben, so nicht stattgefunden hat.
Das ist ein wahrer Gedanke – wer sich selbst ernsthaft prüft, wird das bestätigen können (und wer es nicht glaubt, sollte „Vom Ende einer Geschichte“ von Julian Barnes lesen).