gern würde ich Sie mit einem anderen Thema im Wochenende begrüßen. Und wenn es schon Corona sein muss, würde ich es lieber bei einem schlechten Witz über den Namen der neuen Virusvariante „Omikron“ belassen. Zum Beispiel könnte ich schreiben, dass wir immerhin bald alle das griechische Alphabet können. Oder darüber, wie gut der andere Name von Omikron, „Nu“, zum Umgang der Politik mit der Entwicklung der Coronazahlen in den vergangenen Wochen passt („Nanu?“, „Und nu?“). Vor einer Woche zitierten wir an dieser Stelle RKI-Chef Lothar Wieler: „Wir müssen jetzt das Ruder rumreißen. Wir dürfen wirklich keine Zeit verlieren.“ Seitdem haben wir eine Woche Zeit verloren, heute stimmte der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin in den Chor der Mahner ein: „Wir müssen jetzt reagieren“, sagte Burkhard Ruppert dem Neuen Deutschland. Er fürchte eine Situation „wie nach dem Zweiten Weltkrieg“. „Bei den hohen Infektionszahlen werden uns die Intensivabteilungen um die Ohren fliegen.“ Hoffentlich wiederholen wir nicht auch dieses Zitat in zwei, drei Wochen an dieser Stelle.
Auch die Politik debattiert, berät, appelliert. Aber abgesehen davon? Sobald man den Mahnen-und-Appellieren-Tonregler runterdreht, bleibt nicht viel übrig – außer vielleicht Verantwortliche, die der vierten Welle zugucken wie einem Unfall, an dem man sowieso nichts mehr ändern kann. Nach Informationen meines Kollegen Georg Ismar wird nun eine Bundestags-Sondersitzung kommende Woche erwogen, um womöglich Verschärfungen auf den Weg zu bringen. Und während die Luftwaffe erstmals Corona-Intensivpatienten in andere Bundesländer verlegt, einige Menschen verzweifeln (MDR/Twitter) und die WHO die neue Mutation als „besorgniserregend“ einstuft, planen andere Fußballspiele mit 50.000 Zuschauern. Immerhin den Impfstoff-Sommeliers, die das eine Vakzin bester Qualität dem anderen Vakzin bester Qualität vorziehen und damit alles noch komplizierter für alle machen, gebieten die Berliner Impfzentren nun Einhalt. Ab heute gibt’s Moderna (außer für Schwangere und unter 30-Jährige). Die Alexa-Impfstation stellt am 1.12. auf den Stoff um.
Los geht’s mit den Checkpoint-Medaillen der Woche. Natürlich waren wir versucht, Bronze an die RGRmbH i.G. zu verleihen, die am Montag ihren Koalitionsvertrag vorstellen will; Berlins neue Regionskoalition steckt gerade in den Schlussberatungen, Kollegin Sabine Beikler berichtet. Man wolle bloß noch Dissense ausräumen. Na, wenn’s weiter nichts ist. Zwar twitterte der stellvertretende Linken-Vorsitzende Tobias Schulze am Abend von den Verhandlungen ein optimistisches „Läuft bei uns…“ (Selfie mit Lederer und Coca-Cola, im Hintergrund: Giffey, Geisel & Co. KG, Twitter), wir wollten dann aber doch keine Vorschuss-Medaillen verteilen. Wir wissen schließlich, wie unerwartet sich Vorgänge in dieser Stadt ins Unendliche verschieben können.
Die Bronze-Medaille erhält deshalb – durchaus kontrovers! – ein namenloser Kontrolleur in der S-Bahn, der zum Ticket auf gar keinen Fall den Impfpass sehen wollte („das machen andere (…) von uns“) und meiner Kollegin Fanny Oppermann auf Nachfrage die wohl berlinerischste aller Antworten gab: „dit is’ nich’ mein Aufgabenbereich“. Und: „Ich find’s ja toll, dass Sie geimpft sind.“ Wir finden die Episode so enttäuschend wie poetisch. Für Bronze reicht’s.
Silber gibt‘s für all die Bars, Restaurants und Kultureinrichtungen, die 2G-Nachweise wirklich prüfen, um ein bisschen mehr Sicherheit zu schaffen (auch wenn das leider keine Garantie ist, sich nicht anzustecken, Jana Weiss berichtet). Auf unserer interaktiven Karte haben wir mit Ihrer Hilfe mittlerweile über 800 Orte gesammelt. Wir freuen uns, wenn Sie weitere schicken – oder auch Negativmeldungen, damit diese Orte ganz bestimmt nicht auf der Karte landen.
Ein aussichtsreicher Medaillen-Kandidat hat sich für diese Woche leider disqualifiziert: Die Impfbusse, die im Team antraten, hätten angesichts der aktuellen Corona-Lage allerbeste Chancen gehabt, fielen dann aber im letzten Moment durch fehlende Heizungen (CP vom 25.11.) und Nichterscheinen vor dem Dong-Xuan-Center negativ auf. Schuld war ein falsches Datum auf berlin.de (das übrigens bis heute Nacht nicht korrigiert wurde). Und in Treptow-Köpenick steuerte der Impfbus gestern spontan einfach den Mellowpark statt des Allende-Centers an. Über den Wankelmut des Südost-Impfbusses hatten sich schon vergangene Woche Anwohner geärgert, wie Thomas Loy im „Leute“-Bezirksnewsletter berichtet.
Gold wert ist Angela Merkels Musikgeschmack, wie wir gestern erfuhren: Für ihre Abschiedszeremonie vor dem Reichstag wünscht sie sich nicht nur „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef, sondern auch Nina Hagens DDR-Hit „Du hast den Farbfilm vergessen“. Aber da der bald Ex-Kanzlerin beim Großen Zapfenstreich sicher ausreichend Aufmerksamkeit zuteilwerden wird, wollen wir die Goldmedaille einer Person verleihen, deren Namen wir nicht kennen. Und der sich um diejenigen kümmert, deren Namen am Ende ihres Lebens scheinbar niemand mehr kannte: dem Friedhofsangestellten des Alten Domfriedhofs St. Hedwig in Mitte. Dort werden unter anderem einsam Verstorbene bestattet – dicht an dicht in kleinen Urnengräbern. Hier arbeite „ein Mann und beerdigt oft als einzig (!) Anwesender täglich viele der aus der Gesellschaft Gefallenen. Er tut dies mit so viel Respekt und Würde“, schreiben uns Kerstin und Frank Buschenhagen. Für seinen Dienst an der Menschlichkeit habe der namenlose Friedhofsmitarbeiter eine Medaille „wirklich verdient“. Finden wir auch.
Über die Blechmedaille mussten wir diesmal leider keine Sekunde nachdenken. Sie geht an die Frau, die den Lichtenberger Balogun Adegbayi gestern heftig rassistisch beleidigte und bespuckte. Der 32-Jährige veröffentlichte ein Video von dem Vorfall auf Twitter. Adegbayi, der von Beruf Kreditberater ist, erstattete Anzeige, wie er dem Checkpoint bestätigte. Meinem Kollegen und Bezirksnewsletter-Autor Robert Klages erzählte er zudem, oft glaube man ihm Berichte von rassistischen Übergriffen nicht. „Diesmal dachte ich, ich nehme es mal mit meinem Handy auf.“ Die Frau, die vor der Volkshochschule Lichtenberg angefangen habe, ihn zu beleidigen, kenne er nicht. Die Polizei twitterte am Abend, sie habe das Video dem Staatsschutz beim Landeskriminalamt übermittelt.
„Jede rassistische Gewalttat ist und bleibt ein Riss in der Demokratie. Und die Bundesrepublik hat mutmaßlich mehr Risse, als ihr bewusst ist“, schreibt Kollege Frank Jansen. Einmal pro Jahr trifft er Orazio Giamblanco, den Skinheads am 30. September 1996 in Brandenburg angegriffen haben; seitdem ist er schwerbehindert. Auch dieses Jahr, 25 Jahre nach der rechtsextremistischen Gewalttat, hat Frank Jansen ihn besucht. Hier können Sie den Text lesen.
Wochniks Wochenende
Die besten Berlin-Tipps für drinnen, draußen und drumherum.
48h Berlin
Samstagmorgen – Abwarten, Teetrinken. Zum Glück ist das Wetter so mies, dass sich das Gefühl, draußen etwas zu verpassen, in Grenzen hält. Die größten Glücksgefühle bekommt man derzeit sowieso im Impfzentrum. Dort erhält man nicht nur Zugang zu kulturellen Veranstaltungen mit 2G+-Regel. Mit dem Besuch ermöglicht man diese überhaupt erst. Denn ohne Publikum keine Kultur. Über symbiotische Beziehungen und die Verbundenheit allen Seins kann man hervorragend bei einer Tasse Tee nachdenken – etwa von Kos-Tea (Heinrich-Roller-Straße 6 in Prenzlauer Berg) oder Bohea (Niederbarnimstraße 3 in Friedrichshain). Die beste philosophische Adresse zur Allverbundenheit heißt übrigens Baruch de Spinoza. Dass seine Ideen zur, wie er es nannte, „Univozität des Seins“, auch heute noch Aktualität haben, will eine Spinoza-Reihe heute Abend um 19.30 Uhr im „diffrakt – Zentrum für theoretische Peripherie“ (Crellestraße 22, Schöneberg) zeigen.
Samstagmittag – Apropos Einheit: Die Deutsche Einheit gilt als deutsch-deutsche Erfolgsgeschichte. Aber fehlt da nicht was? Zum Beispiel die Tausenden von Gastarbeiterkindern, die etwa in Kreuzberg im Schatten der Mauer aufwuchsen, Nachkriegsdeutschland mit aufbauten und vom Mauerfall ebenso betroffen waren, wie ihre deutschen Freunde und Kolleginnen — als es aber an die Feierlichkeiten ging, ausgeschlossen wurden. „Der Mauerfall ist im migrantischen Gedächtnis Berlins eine offene Wunde“, sagt Autorin Maria Alexopoulou. Anlässlich des 60. Jahrestages von Mauerbau und deutsch-türkischem Anwerbeabkommen veranstaltet nun das Literaturkollektiv Daughters and Sons of Gastarbeiters eine Lesung im SO36, um 17.30 Uhr. Vorgestellt wird hier das Buch „Grenzerfahrungen“, (Yılmaz-Günay Verlag, Berlin 2021).
Samstagabend – Alles will uns etwas sagen – seien es Reklametafeln, Banner auf dem Bildschirm, oder die Kleidung von Mitmenschen in der U-Bahn. Ist nicht deshalb das Meeresrauschen oder der Wind im Waldgeäst so entspannend anzuhören? Die wollen uns nämlich gar nichts sagen. Eine Note dieser Naturästhetik steckt auch in der Musik des US-Komponisten Earle Brown. Aus dem Dunstkreis von John Cage, Merce Cunningham und Morton Feldman stammend, ist er hierzulande nicht ganz so bekannt wie seine Mitstreiter. Die Neue Nationalgalerie will das mit einer Aufführung von Browns „Calder Piece“ im Rahmen der laufenden Alexander-Calder-Ausstellung ändern, heute und Sonntag um jeweils 19 und 21 Uhr.
Sonntagmorgen – Apropos Neue Nationalgalerie: Wer sein Wissen über das Bauhaus einmal über die gängigen Klischees und Vereinfachungen hinaus befördern möchte, höre mal in den Podcast des Bauhaus-Archivs „About Bauhaus“ hinein. Kunsthistorikerin Adriana Kapsreiter seziert darin gängige Bauhaus-Legenden, „um ein vielschichtiges Bild der legendären Schule für Gestaltung zu zeichnen“, wie es im Programm heißt. Und das im Gespräch mit Expert:innen des Bauhaus-Archivs und Künstlerinnen wie dem Szenenbildner Uli Hanisch, der Kuratorin Kristin Bartels, dem Fotografen Sven Marquardt oder die Berliner Dragqueen Jurassica Parka.
Sonntagmittag – Vom Bauhaus zum Baugerüst: Hinter einem solchen versteckt, hat Genuss-Experte Ulrich Amling „einen Lichtblick“ kulinarischer Art entdeckt: Zum Heiligen Teufel heißt das Restaurant in der Lübbener Straße 23, das Gegensätze vereint. Zum einen im Menü: „Die Zutaten sind wunderbar in ihrer Klarheit zu erkennen und gehen zugleich eine ungezwungene Beziehung miteinander ein.“ Und zum anderen in Sachen Nachbarschaftspflege, denn offenbar haben Nachbar:innen, die sich ein stilles Kreuzberg wünschen, die Polizei auf Kurzwahl, weshalb um 22 Uhr Schluss ist.
Sonntagabend – Apropos Gentrifizierung… Nach dem Essen zunächst ein Spaziergang nach Neukölln: Im netten Café Plume (Warthestraße 60) wird um 19 Uhr ein Buch vorgestellt. Der Rückzug aufs Papier ist schließlich nicht nur zeitgemäß, sondern eigentlich auch gar keiner, wenn sich beim Lesen ganze Welten auftun, gar die Revolution ausgerufen wird. „Rebellisches Berlin – Expeditionen in die untergründige Stadt“ lautet der Titel, der von Berliner Widerständigkeit vom Mittelalter bis zu aktuellen Gegenbewegungen zu Gentrifizierung und Rechtsradikalismus erzählt.
Mein Wochenende mit
Kevin, unser liebstes Wildschwein in der Rotte, kennt jeden Flecken Land in Berlin und Brandenburg. An dieser Stelle gibt er wöchentlich Ausflugstipps ins Umland.
„Bum, tschak, krach! – unsanft bin ich neulich von Baulärm aus meinem Schönheitsschlaf gerissen worden. Sie können sich denken, dass mir danach nicht mal mein Trüffelmüsli schmecken wollte. Wenig später stand Chantal, die Tüftelsau von Nebenan, bei mir auf der Matte und präsentierte euphorisch ihr Werk: Ein Allwetterschlitten! Mit Kufen und daran befestigten abnehmbaren Rädern emanzipiere sie sich ein für alle mal von der Wettervorhersage, verkündete sie. In den kommenden Tagen solle schließlich Schnee fallen, die Temperatur aber durchweg über dem Gefrierpunkt bleiben – damit könne man doch nicht planen. Ich für meinen Teil, entgegnete ich pikiert, hätte eigentlich geplant, auszuschlafen. Es gehe um die Ausgeglichenheit meines Gemüts und nicht zuletzt um straffe Gesichtshaut. Außerdem verstünde ich den Aufriss um das Rodeln nicht – was soll denn bitte reizvoll am Abstieg sein, wenn man eigentlich hoch hinaus will? Dass man beim Rodeln doch immer wieder sportlich bergauf müsse, erwiderte Chantal, halte fitter als der Schlaf. Und dass der Gegenwind beim Abwärts-Rasen auch die Gesichtshaut straffe. Jetzt sind wir für Samstag am Rodelberg im Freizeitpark Lübars verabredet. Das Gelände wird bei Dunkelheit von einer Flutlichtanlage ausgeleuchtet, was uns auch von der Tageszeit emanzipiert. Emanzipiert wie ich bin, sehe ich mich allerdings rasch die Alte Fasanerie nebenan ansteuern – Fasane klingen mir schon eher nach ‚hoch hinaus‘ – und dort nach einem gemütlichen Schlafplätzchen Ausschau halten. Ich empfehle mich, mit zerknirschten Grunzen.“
Leseempfehlungen
Die Badesaison ist vorbei? Mitnichten! Für einige Berliner:innen geht der Spaß gerade erst los. André Görke (Abo) sprach mit einigen besonders warmblütigen Kaltbadern.
Um 1900 explodierte die Bevölkerungszahl Berlins, alles befand sich im Umbruch – und einer, der es als Feuilletonist dokumentierte, war Alfred Kerr. Deborah Vietor-Engländer hat nun 733 seiner Texte auf fast 3000 Seiten in vier Bänden zusammengetragen (149 Euro), Peter von Becker (Abo) bespricht die Ausgabe im Tagesspiegel, Jens Bisky (Z+-Abo) für die ZEIT.
Noch mehr Lektüre: Eine wahre Zeitkapsel ist der Historienroman „Kazimira“ von Svenja Leibers, darin eine sich über fünf Generationen erstreckende, aus dezidiert feministischer Perspektive geschriebene Erzählung von Frauen in Ostpreußen. Gunda Bartels (Abo) hat ihn gelesen.
Wochenrätsel
Kein Durchkommen gibt’s mit der Tramlinie 21: Fast täglich muss die Straßenbahn ihren Betrieb einstellen, weil...?
a) ... zu viele Störungen den Betriebsablauf blockieren.
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Neuerdings beweist selbst die Berliner Verwaltung, dass Berlin zu Recht als Stadt der Kreativen gilt. Sie sucht nämlich kreative Köpfe für mindestens ebenso kreative Positionen. Die BVG zum Beispiel will eine/n „Mitarbeiterin/Mitarbeiter (w/m/d) Betriebspausenmanagement“, Einstellung „schnellstmöglich“. Versüßen sie U-Bahn-Fahrer*innen die Fünfminutenpause am Endbahnhof mit Yoga, coachen Sie Gruppen von Kontrollierer*innen in der Kunst der gepflegten Konversation, stellen sie allen gesunde Lunchboxen zusammen. Klingt gut? Nun ja, ehrlich gesagt geht es um die Erstellung von Nacht- und Sonderfahrplänen. Aber man wird ja ein bisschen träumen dürfen. Auch in Reinickendorf. Hier sucht man eine*n Gärtner*in zur „Leitung der Spielplatzunterhaltung“. Klingt doch nach einem Top-Service für die Kinder und Eltern dieser Stadt.
Unterhaltsam war die Zusammenarbeit, die diesen Checkpoint ermöglicht hat – Lotte Buschenhagen hat recherchiert und Cristina Marina am Schluss alles noch verschönert (Produktion). Wir lesen uns am Montag wieder.
Ihre Nina Breher