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Der Mietendeckel polarisiert BerlinBaustadtrat Schmidt lässt wieder Findlinge in die Bergmannstraße kippenKabelsalat gefährdet BER-Eröffnung im Oktober 2020

Berlin ruft vielleicht den „Klimanotstand“ aus (CP von gestern), aber nicht nur die Erderwärmung beschäftigt Berlin: Zu spüren ist auch eine Erhitzung des gesellschaftlichen Klimas – und der Mietendeckel bringt den Topf zum Überkochen. Mieter gegen Vermieter, gut gegen böse, dafür oder dagegen – dazwischen gibt’s nichts mehr.

Die Vermieterverbände haben vorgeglüht. Anstatt sich Spekulanten, Tricksern und Wucherern entgegenzustellen, sind sie ihren Kunden, den Mietern, in den Rücken gefallen. Das Ergebnis dieses Verbandsversagens: Es wird kaum noch differenziert, aus dem Eigentümer ist ein Feindbild geworden.

Die regierende Politik nahm das gerne auf. „Wir holen uns die Stadt zurück“, lautet Berlins Leitbild unter Rot-Rot-Grün – bei einem Mietwohnungsanteil von 85 Prozent ein billiger Durchlauferhitzer. Dabei haben SPD und Linke mit ihrer Privatisierungspolitik in den Nullerjahren zur angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt maßgeblich beigetragen. Vor allem für die Linke ist der Wohnungskampf Teil einer Trauma-Therapie: Am Ende ihrer ersten Regierungsbeteiligung fühlten sich die Stammwähler, unmittelbar betroffen von der Austeritätspolitik, von Rot-Rot verraten.

Mit Heilsversprechen und symbolischen „Rückeroberungen“ erweckt heute die Koalition visionäre Erwartungen, die an der Wirklichkeit scheitern werden. Und auch die Opposition dreht die Flamme noch höher: Sie raunt von einer Wende zum Sozialismus. Doch von Planwirtschaft ist die Koalition so weit entfernt wie der Hohenzollern-Nachwuchs vom Wiedereinzug ins Schloss.

Maßlosigkeit hat von der Stadt Besitz ergriffen, beim Abkassieren der Mieter wie beim Servieren politischer Wunderrezepte.

Telegramm

Jetzt ist es amtlich: Florian Schmidt stammt politisch von Fred Feuerstein ab – der Baustadtrat ließ gestern seine geliebten Kreuzberg-Rocks („Stonelets“) auf die Bergmannstraße kippen, um Falschparker zu blockieren. Yabba Dabba Doo! Damit ist die Steinzeit in Kreuzberg auch offiziell eröffnet.

Für CDU-Urgestein Kurt Wansner bleibt da einstweilen nur die Rolle von Hein Blöd aus „Käpt’n Blaubär“: Er beklagte gestern, dass die bisherigen Parklets durch „Findlinge und Barken“ ersetzt wurden. Hm, Barken? Sind das nicht so kleine Schiffchen? Da ist offensichtlich Land unter.

Da sich weder die Bezirke, noch die IBB in der Lage sehen, bei der erwarteten Antragsflut nach Einführung des Mietendeckels den Kopf über Wasser zu halten, wünschte sich Bezirksbürgermeisterin Gabriele Schöttler (T’hof-S’berg) gestern zum Geburtstag ein neues Landesamt – könnte ihr der Regierende ja vielleicht zum nächsten Jahr schenken (früher wird das nichts).

Auch 2674 Tage nach Nichteröffnung des BER steht in Schönefeld Kabelsalat auf dem Menü: Etwa 2400 Mängel sind noch zu beheben, aber Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup sagt: Es gibt „keine Showstopper“ mehr. Mein Tipp (4. Oktober 2020) hat also noch alle Chancen – ich stell‘ schon mal das Bier kalt.

Mit Staatssekretär Torsten Akmann lag Landeswahlleiterin Petra Michaelis schon seit längerem über Kreuz – jetzt wirft sie hin. In ihrer Abteilung machte sie klar: „Die Hausleitung“ ist daran schuld. Checkpoint-Tipp: Sie taucht bald wieder auf – und zwar an der Seite von Michael Müller (Abteilung Wissenschaft).

Schöner Berlin-Essay von Tanja Dückers heute im Tagesspiegel-Feuilleton – sie schreibt: „Zuzug nach Berlin wird erst dann zum Problem, wenn er bestehende Missstände grell akzentuiert.“ Kategorie Klatsche von einer Ureinwohnerin.

Und ein paar Seiten weiter auf „Mehr Berlin“ bekennt Ariane Bemmer: „Ich lebe in dieser Stadt nur, weil ich mich nicht zugehörig fühlen muss. Wie ein Entwicklungshelfer in einem Krisengebiet – diese Distanz tut gut.“ Aber wir sind auch tolerant – selbst Hamburgerinnen gegenüber.

Als Zeichen unserer selbstlosen Gastfreundschaft hat übrigens gestern Union die Eintracht aus Frankfurt mit 2:1 gewinnen lassen.

Nachrichten aus dem Zoo: „Geschlecht der Pandas soll in China ermittelt werden“ – bis die dort soweit sind, tragen wir hier einfach mal ein „d“ für divers ein. Es kommentiert „Voice of Germany“-Coach Alice Merton: „Ich dachte, das ist heute gar nicht mehr so wichtig.“

Spandaus Bürgermeister Kleebank hört 2021 auf – in der Politik will er bleiben, einen neuen Platz hat er schon in Aussicht: im Bundestag, als Nachfolger von MdB Swen Schulze.

Neuer Blick auf ein altes Problem: Berlinweit erscheinen 17 Prozent der Kunden nicht zu ihrem Termin im Bürgeramt – kaum auszudenken, wie viel da erst ausfallen würde, wenn es genug Termine gäbe… bis zum 5. November geht gar nichts. Ronja Ringelstein hat sich durch alle Bezirke gefragt, wo es besonders schlimm ist, können Sie hier nachlesen.

Dazu noch das: Bezirksstadtrat Thomas Braun (AfD, Marzahn-Hellersdorf) lässt ausrichten, wir mögen doch bitte in Zukunft von „solchen sehr kurzfristigen Anfragen Abstand nehmen“. Und Bezirksstadtrat Sebastian Maack (AfD, Reinickendorf) möchte Terminverpasser künftig „bestrafen“ – mit „längeren Wartezeiten“ (hier kommt im TV die Stelle mit dem Schild LACHEN).

Kleine Verspätung gestern bei der S5: Laut Anzeigetafel kam der nächste Zug über Bahnhof Zoo und Ostbahnhof nach Hoppegarten in 72 Minuten – Ommm…

Klasse Multimedia-Reportage unseres Volo-Teams: „Wer ist schuld am Alexanderplatz?“ Antworten gibt’s heute in der Zeitung („Mehr Berlin“) und digital mit allem Pipapo (Video, Audio, Grafiken) hier.

Die nächste Tour der Checkpoint-Radgruppe steht bevor: Am 6.10. geht’s in gemütlichem Tempo zum BER – Anmeldung und Infos via checkpoint@tagesspiegel.de – und am Montag gibt’s dazu noch eine kleine Überraschung.

Dieser Checkpoint ist übrigens entstanden unter dem Einfluss einer vollen Dröhnung „Feine Sahne Fischfilet“ – inspiriert von der Meldung, dass die Band trotz allen Ärgers mit der AfD und CDU-Stadtrat Gerhard Hanke („Sie werden diese Gruppe dort nicht mehr sehen, das kann ich Ihnen zusagen“, CP vom 26.9.) doch wieder in der Zitadelle Spandauauftreten möchte – und darf: „Ich habe natürlich nichts gegen die Band. Die Band ist mir egal“ (nochmal Hanke, CP von gestern). Beim nächsten Mal bin ich dabei, egal wer das dann veranstaltet oder Stadtrat ist (wenn ich nicht gerade wieder Checkpoint-Nachdienst habe…).

Durch­gecheckt

Durchgecheckt

Günter Hallas gewann 1974 den ersten Berlin-Marathon. An diesem Sonntag geht der Reinickendorfer mit 77 Jahren wieder an den Start. Foto: Fabiana Zander Repetto

Hallo Herr Hallas, Sie sind der Sieger des ersten Berlin-Marathons, 1974, und ich habe gehört, Sie wollen dieses Jahr wieder mitlaufen – stimmt das?

Das ist korrekt.

Das ist doch eine unglaubliche körperliche Leistung, Sie sind 77 Jahre alt, wie halten Sie sich fit?

Ich laufe täglich, na ja, nicht täglich, vier bis fünf Mal die Woche, zehn Kilometer am Tag.

Haben Sie einen besonderen Ehrgeiz, dass Sie jetzt wieder dabei sein wollen?

Nee, eigentlich nicht. Aber das ist jetzt der 46. Marathon, da wollte ich dabei sein, dann kommt bald der 50., da bin ich schon 81…

Na, die Chancen sind doch nicht schlecht, so fit wie Sie sind.

Ja, ja, aber die Bestzeiten sind natürlich vorbei, 1974 hatte ich mit 2:44 Stunden gewonnen, jetzt geht das eher über vier Stunden.

Haben Sie denn eine besondere Ernährung, dass Sie sich so fit halten?

Nein, ich esse alles, Fleisch, Fisch, Gemüse, meine Frau kocht, ich esse…

Trinken Sie denn auch mal ein Bier?

Na ja, ich trainiere bei der Leichtathletikgemeinschaft Nord, da sind drei Vereine zusammen, ich bin eigentlich BSC Rehberge, und nach dem Training wird ein Bierchen getrunken, ein Hefeweizen, det muss sein… und auch so manchmal… (lacht in sich hinein)

Und jetzt haben Sie auch noch ein künstliches Hüftgelenk.

Ja, aber da ist alles in Ordnung, das ist vor acht Jahren im Waldkrankenhaus Spandau gemacht worden, das ist wieder hundertprozentig.

Auf den Fotos sehen Sie ja aus, als hätten Sie kein Gramm Fett am Körper.

 Ja, det stimmt, ick sag‘ immer, mein Einsegnungsanzug passt mir immer noch.

Gibts beim Berlin-Marathon eine Stelle, die Sie besonders mögen, weil das Publikum da ganz speziell ist?

Nee, eigentlich nicht, die ganze Strecke ist in Ordnung. Besonders ist es dann, wo meine Kinder mit dabei sind, meine Tochter, mein Sohn, und Schwiegersohn, die stehen dann an drei Stellen, da halte ich auch an, jetzt ist es mit meinen Bestzeiten ja vorbei, und bei den Getränkeständen, und dann geht’s weiter...

Toll!

Aber natürlich fällt es mir schon schwer, weil ich ja immer nur noch zehn bis fünfzehn Kilometer trainiere, ich habe dieses Jahr zwei Mal den Halbmarathon mitgemacht, aber irgendwie steh ick det dann noch durch. Allerdings zwei Stunden schlechter als früher, aber da bin ich nicht Letzter, da kommen noch etliche Tausend, die schlechter sind als ich…

Na, so viele, die noch älter sind als Sie, wird es doch kaum geben.

Nee, von den Berlinern sind vielleicht noch zwei oder drei so alt wie ich, die staunen dann und sagen: Mensch Günter, Du läufst ja immer noch. Da sage ich dann: Na ja, es macht noch Spaß.

Herr Hallas, dann drücke ich Ihnen beide Daumen, dass das Wetter super ist, und dass Sie die runde Summe auch noch schaffen, mit 81 kann man ja noch laufen…

Hoffentlich wird es nicht zu warm, dann muss ich schneller laufen, damit ick eher rin komme, bevor die Sonne so raus kommt.
 

Thomas Wochnik

Wochniks Wochenende

Die besten Berlin-Tipps für drinnen, draußen und drumherum.

48h Berlin

Samstagmorgen – Optimierer sind besonders besonnene Menschen, die nicht zu Spontankäufen neigen, sondern vor jeder Anschaffung ausgiebig das Beste, Effizienteste und Günstigste recherchieren. Sie kaufen zielgerichtet und beratungsresistent, reden vom „Preis-Leistungs-Verhältnis“ und zweifeln prinzipiell an der Kompetenz des Verkaufspersonals. Entsprechen recherchierte Produkte nicht ihren Erwartungen, zeigen sie sich schon mal verletzlich. Als Bibel dieser Subkultur darf man sicherlich die Publikationen der Stiftung Warentest nennen, die seit gut einem halben Jahrhundert Verbrauchern Orientierung jenseits von Werbeversprechen bieten. Vier Mal im Jahr ist zudem so etwas wie Bescherung, so auch heute: Um 10 Uhr versteigert die Stiftung aus den Tests der letzten Monate unbeschädigt gebliebene Produkte am Werdauer Weg 23 in Schöneberg.

Samstagmittag – Die aktuelle Ausgabe des Kontakte-Festivals an der AdK ist programmatisch mit dem Titel der namengebenden Komposition Karlheinz Stockhausens verbunden. „Kontakte“ ist nämlich eine der ersten, in denen Stockhausen seine Momentform erprobte: Er komponierte kurze, voneinander unabhängige musikalische Gesten und reihte sie intuitiv, also ohne Regel, aneinander. So kommen Kontakte zwischen disparaten Ideen zustande. In diesem Sinne will auch das Festival unzusammenhängende Felder von elektroakustischer Musik, Klangkunst und deren Akteure zusammenbringen. Ab 15 Uhr laufen Gespräche mit den Preisträgerinnen des Thomas-Seelig-Musikpreises Beatriz Ferreyra und Magdalena Długosz, von denen beim Konzert um 20 Uhr auch Uraufführungen zu hören sein werden. Das ganze Programm findet sich hier.

Samstagabend – Da wir beim Zusammenbringen von Gegensätzen: „Berlin bleibt!“ schreit es von zahlreichen plakatierten Wänden der Stadt allen entgegen, die kommen, um aufzuwerten, zu modernisieren und zu erneuern – und sich darüber wundern, dass das linke Berlin dermaßen konservativ auf seinem Status beharrt. Den sollte man sich aber auch vor Augen führen: Berlin ist noch erschwinglich, seine Bevölkerung für deutsche Verhältnisse hochgradig divers und reich an Reibungen. Und die erzeugt bekanntlich Wärme, Bewegung, kurz: stetigen Wandel. Und der wird von der Erneuerung bedroht, wenn sie mit Verdrängung und Verteuerung einhergeht. Für den heutigen Abend haben Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura eine Lesung „Mietsachen. Vermischtes aus der Welt der Immobilien“ in der Tradition des Dokumentartheaters produziert, deren Stoff mehr recherchiert als ausgedacht ist – und Kroesinger, der als Regisseur sonst Andere vortragen lässt, liest als begnadeter Erzähler selbst. 20 Uhr im HAU2, Hallesches Ufer 32. Und hier entlang zu weiteren Programmpunkten von „Berlin bleibt!

Sonntagmorgen – Heute wählt Österreich vorgezogenermaßen den Nationalrat, der sich wegen der Ibiza-Affäre im Juni selbst aufgelöst hat. Im gemütlichen Felix Austria kann man sich auf die verkürzte Legislatur einen leiwanden Verlängerten gönnen und bei Bedarf Weißwurst zuzeln, über die neuen Vorwürfe gegen Strache nachsinnen und so den Tag innerlich reisend anstimmen, romantisch verklärt und ganz ohne die adäquate Empörung über die Situation – laut Tagesspiegel-Redakteurin Melanie Berger zeigen Exilösis in Berlin nämlich keinerlei protestierende Präsenz anlässlich der Wahl. Geh' bitte. Bergmannstraße 26
 
Sonntagmittag – …wo wir grad beim Träumen sind: Wie steht es um den Traum der autofreien Innenstadt? Heute ist nämlich Marathontag und die Fußhoheit zum Greifen nah (hier eine Übersicht aller Sperrungen). Der Mythos, auf dem der Lauf beruht, ist übrigens eine Ente der Geschichtsschreibung, der zufolge der Bote Pheidippides vor 2500 Jahren vom Schlachtfeld nach Athen lief, um die Kunde des Sieges über die Perser zu überbringen. Nach 40 Kilometern in voller Rüstung und gleißender Hitze soll er sich dermaßen verausgabt haben, dass er nach der Verkündung starb. Die Geschichte gilt als populistische Propaganda, wenngleich durchaus irgendein Bote vom Schlachtfeld nach Athen gelaufen sein dürfte, wie es damals üblich war. So ist der morgige Lauf ein anschauliches Beispiel für das Thomas-Theorem, demzufolge in seinen Konsequenzen real ist, was der Mensch für real hält. Die Botschaft des heutigen Laufes lautet übrigens…, hm, die offizielle Seite gibt nichts her. Sagen wir doch einfach, gemäß der Indizienlage, der „BMW-Berlin-Marathon“ setzt ein Zeichen für die autofreie Stadt (N.T.). Mal schauen, ob sich das Thomas-Theorem dann erneut bestätigt.

Sonntagabend – Wie „Berlin bleibt!“ und „Kontakte“ ist auch das BAM!-Festival bereits seit Tagen im Gange. Mit dem Blick ins Programm sollte man daher nicht bis Sonntagabend warten. Wer allerdings das Ende vom Wochenende sowieso nur unter körperlichen Qualen übersteht, darf sich hier etwas Empathie abholen. Denn mit dem Project Wildeman kommt ein niederländisches Männerquartett auf die Volksbühnenbühne, das für die Auslotung körperlicher Grenzen mit hohem RisikoVerletzungsgefahr und Auslösung von Panik unter Spiegelneuronen bekannt ist. Es ist aber nicht alles bloß Spektakel, sonst würde hiermit nicht das Finale des Festivals beschlossen werden. Im Anschluss steigt im Grünen Salon die Abschlussfeier, bei der mit der ein oder anderen Überraschung zu rechnen sein sollte.

Mein Wochenende mit

Durchgecheckt

Gregorio Garcia Karmann leitet das „Studio für Elektroakustische Musik“ der AdK am Hanseatenweg und ist Co-Veranstalter des Kontakte-Festivals (hier das Programm). Foto: Priska Ketterer

Ich bin dieses Wochenende natürlich mit dem Festival beschäftigt. Neben Klanginstallationen und anderem Rahmenprogramm werden wir am Ende 70 Werke aufgeführt haben, davon 20 Uraufführungen. Am Samstag freue ich mich auf die beiden Preisträgerinnen des Thomas-Seelig-Preises Beatriz Ferreyra und Magdalena Długosz, die ab 15 Uhr an Podiumsgesprächen teilnehmen und um 20 Uhr mit Uraufführungen präsent sein werden. Im Anschluss das Konzert mit modularen Synthesizern mit Thomas Ankersmit, Ute Wassermann, Thomas Lehn und Richard Scott. Einen Höhepunkt bildet das Gespräch um 17 Uhr mit chinesischen Komponisten. Ihre Musik ist immer weniger das Epigonale, was man vor zehn Jahren noch gewohnt war aus China zu hören. Sie suchen stattdessen nach eigenen Wurzeln und Ausdrucksformen. Am Sonntag werde ich beim Turntablisten-Marathon sein und sicher beim Kontraklang-Abschlusskonzert, bei dem wir mit dem Komponisten Helmut Oehring kooperieren, der Schüler von meinem Vorgänger Georg Katzer war, der wiederum das Studio für Elektroakustische Musik gegründet hat. Besonders freue ich mich aber darüber, dass das Festival tatsächlich ein Treffpunkt von Künstlern aus aller Welt geworden ist. Wenn es die Zeit erlaubt, werde ich ihnen das Hansaviertel zeigen oder mit dem Fahrrad das Tempelhofer Feld, solange es noch da ist. Meine persönliche Rückzugslocation aber ist ein unscheinbares türkisches Café nahe dem S-Bahnhof Bellevue, wo sich die Nachbarschaft trifft. Ich glaube, es hat noch nicht einmal einen Namen.“

Lese­empfehlungen

Apropos Verdrängung: Enno Stahl hat sich für seinen Roman Sanierungsgebiete in verschiedene Ecken Berlins begeben, mit Betroffenen gesprochen, Statistiken recherchiert und den laufenden Gentrifizierungsprozessen vor allem in Prenzlauer Berg und Neukölln nachgespürt. Und hat alles in eine verspielte, aktive, vielleicht dem lebendigen Idealzustand der beschriebenen Kieze entsprechende Sprache gegossen, die jedes lesende Auge ganz locker über die knapp 600 Seiten hinweg wuchtet.

Apropos populistische Propaganda: Theodor W. Adorno hat weder die AfD noch die Identitäre Bewegung je kennenlernen können, aber in mancher Hinsicht erstaunlich gut beschrieben. Zum Beispiel in seinem Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ im April 1967. Anlass war ein Erstarken der NPD ab 1964. Wer sich mit Adornos Sprache schwer tut, kann womöglich mit Franziska Schutzbachs „Die Rhetorik der Rechten: Rechtspopulistische Diskursstrategien im Überblick“ von 2018 mehr anfangen. Natascha Strobl, Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Rechtsextremismus und Autorin von „Die Identitären“, tippt bei Gelegenheit auch mehr oder minder nüchterne Analysen rechtspopulistischer Reden in die Fäden ihres Twitter-Accounts, die unter dem Hashtag #NatsAnalyse gezielt zu finden sein sollen (es aber nicht immer sind). Die Sprache selbst ist hier übrigens nicht preisverdächtig und thematisch geht es chaotisch zu. Das hat nicht nur den fehlenden Schliff eines Redigats zum Grund, sondern liegt auch daran, dass Strobl manchmal während der laufenden Ausstrahlung, in fast Echtzeit kommentiert. Und Echtzeitliteratur ist prinzipiell interessant.

Wochen­rätsel

Wer teilte diese Woche via Aushang in Berlin folgendes mit: Dealer, verpisst euch! Wir sehen euch! Wir rufen die Polizei! Wir klauen euren Scheiß aus euren Verstecken! Haut ab!

A) Grüne Friedrichshain-Kreuzberg
B) Bundestagsfraktion der FDP
C) CDU Neukölln

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Encore

Heute vor einundneunzig Jahren geraten im Labor Alexander Flemings versehentlich Staphylokokken-Kulturen und Pilze der Gattung Penicillium aneinander. Dem aufmerksamen Bakteriologen entgeht nicht, dass sich das Wachstum des Bakteriums drastisch verringert. Sie ahnen es: In der Folge entwickelt er das Penicillin, verändert die Welt und erhält 1945 den Nobelpreis. Wir gratulieren. Greta Thunberg ist, unter Berufung auf die prinzipiell gleiche Wissenschaft, gerade dabei, die Welt zu verändern. Und zwar gegen den Widerstand wissenschaftsfeindlicher Interessensgruppen, die, da sie der Wissenschaft nichts entgegenzusetzen haben, ihre Person zu diskreditieren bemüht sind. Vielleicht ist der Geburtstag des Penicillins ja eine Gelegenheit, kurz mal über den Platz nachzudenken, den wir der Wissenschaft in der Welt einräumen wollen. Thunberg hat für ihren langen Atem gerade den Alternativen Nobelpreis erhalten. Wir gratulieren...

...und wünschen Ihnen ein schönes Wochenende.

Ihr Lorenz Maroldt