2736 Tage nach Nichteröffnung des BER verkündete Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup einen neuen Eröffnungstermin – seinen Plan stellte er gestern dem Aufsichtsrat vor: Am 31. Oktober 2020 landet die erste Maschine, acht Tage später macht Tegel dicht. Nebenan in Schönefeld herrschte da gerade Bombenstimmung: Ein explosives Fundstück aus WK II (Entdeckung 75 Jahre verspätet) legte am Freitagmittag den Airport SXF für eine Stunde lahm.
In den angeschlossenen Funkhäusern schwebten zur gleichen Zeit die Finger der Nachrichtenchefs zitternd über der Enter-Taste – wer würde als Erster die frohe Botschaft verkünden? 13 Jahre nach dem Spatenstich ging es plötzlich um Sekunden. Es war dann die Flughafengesellschaft selbst, mit einem Tweet um 14.21 Uhr.
Drei Minuten später meldete sich dann hektisch der RBB, ganz so, als könnte die Eröffnungsverspätung noch aufgeholt werden: „+++EIL+++ Der BER soll am 31. Oktober 2020 öffnen.“ Jaja ok… (Es ist übrigens der allerletzte mögliche Tag im vor drei Jahren versprochenen Monat Oktober 2020).
Die Bahn hatte da längst ihren Teil am Kommunikationskuchen klargemacht – ihre Infomail, versendet um Punkt 12, trug den Betreff: „+++Achtung!!! Sperrfrist bis zur offiziellen Bekanntgabe des Eröffnungstermins durch den Flughafen Berlin-Brandenburg +++Bahnhof am neuen Berliner Flughafen startklar“. Was nicht verraten werden durfte: „Wir hatten unsere Gleise und Bahnsteiganlagen bereits zum ursprünglich vorgesehenen Termin rechtzeitig fertiggestellt.“ Na dann: Herzlichen Glückwunsch nachträglich.
Die verehrten Kolleginnen und Kollegen anderer Medien warteten anschließend auf die Pressekonferenz nach der Aufsichtsratssitzung, Team Checkpoint machte sich unterdessen auf die Suche nach der geheimnisvollen BER-Formel, die das Rätsel des Tages erklären sollte: Wie kommt der Flughafenchef auf den 31.10.20? Zugegeben, es war harte Arbeit, doch gestählt durch das Seminar „Mathe mit dem Checkpoint“ haben wir sie gefunden, die Formel – und gelöst! We proudly present:
6 + 40 - (64 x 3037 + 2737 - 503000 - 10 x 2031 + 7 x 8 x 42 + 12529 + 350) = 311020
311020! Also der 31.10.20. So, und jetzt die Frage für BER-Kenner: Was zum Teufel (Halloween!) haben die Zahlen zu bedeuten? Na klar, als aufmerksame Checkpoint-Leserinnen und -Leser wissen Sie das. Der Reihe nach:
6: Zahl der geplatzten Eröffnungstermine.
40: Breite von Terminal 2, dessen Rohbau pünktlich fertig war.
64: Alter von Flughafenchef Lütke Daldrup am Tag der angekündigten Eröffnung.
3037: Stand des BER-Counters „Tage seit Nichteröffnung“ am Tag der angekündigten Eröffnung.
2736: Stand des BER-Counters „Tage seit Nichteröffnung“ am Tag der Verkündung des neuen Eröffnungstermins).
503000: Jahresgehalt von Flughafenchef Lütke Daldrup.
10: Zahl der Wildpferde, die Flughafenchef Lütke Daldrup der Gemeinde Schönefeld geschenkt hat.
2031: Zahl der verbliebenen Mängel am Tag der Verkündung des neuen Eröffnungstermins.
7: Zahl der gescheiterten Flughafenchefs seit 2012, inkl. Technikchefs, exkl. Flughafenchef Lütke Daldrup.
8: Zahl der Gepäckbänder im BER-Terminal 1.
42: Lt. Douglas Adams die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.
12529: Die Postleitzahl der Flughafengesellschaft.
350: Länge von Pier Süd.
Eigentlich ganz einfach, oder? Wäre das also geklärt. Und für Mathe-Muffel (pssst, nicht verraten): Es gibt einen verkürzten Lösungsweg – der Flughafenchef hat genau am 31.10.20 Geburtstag.Zwei Anlässe, eine Feier: Das ist Effizienz.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke veröffentlichte übrigens gestern um 14.49 eine schriftliche Erklärung zum neuen Eröffnungstermin: „Ich habe großes Vertrauen in die Geschäftsführung.“ Von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller gab es gestern vier Pressemitteilungen zu allerlei Themen der Weltgeschichte. Eine zum BER war nicht dabei. In der Senatskanzlei wird offenbar noch gerechnet. Wir schließen dieses Kapitel für heute mit einem Zitat von Flughafenchef Lütke Daldrup, dem Mann des Tages: „Ein Flughafen ist nie fertig.“ Aber am 31.10.20 wechselt der BER seinen Aggregatszustand – die Tage seit Nichteröffnung zählt der Checkpoint mit seinem BER-Counter bis dahin aber vorsichtshalber weiter.
Zu einem anderen wichtigen Thema:
Am Wochenende fallen die Temperaturen unter den Gefrierpunkt – tausende Menschen, die in Berlin auf der Straße leben, sind dann in Lebensgefahr. Für sie ist der Kältebus der Stadtmission oft die letzte Rettung. Seit 25 Jahren fahren die Helfer durch die Berliner Winternächte, ausgerüstet mit warmen Getränken, Schlafsäcken und Kleidung – und bringen akut von der Kälte gefährdete Obdachlose in Notunterkünfte. Wenn Sie also Menschen in Not sehen, rufen Sie bitte die Nummer 01785235838 an, bevor es zu spät ist – auch wenn Sie im Zweifel sind.
Gemeinsam mit Ihnen wollen wir vom Team Checkpoint diese überlebenswichtige Arbeit unterstützen. Bis zum 8. Dezember spenden wir deshalb für jedes neu abgeschlossene Checkpoint-Jahresabonnement 30 Euro an die Kältehilfe der Stadtmission. Ihre Hilfe kommt direkt dem Einsatz der Kältebusse und dem Betrieb von vier Notübernachtungen, einem Nachtcafé und einer mobilen Straßenambulanz zugute. Den Link zur Anmeldung für die Abo-Aktion finden Sie hier.
Wie wichtig rechtzeitige Hilfe in eisigen Nächten ist, hat Ann-Kathrin Hipp gestern von Hermann Wolter erfahren – der gelernte Kaufmann lebte 33 Jahre unter freiem Himmel, mal auf den Berliner Straßen, mal im Grunewald. In einer eiskalten Dezembernacht lag er auf einer Parkbank am Halensee, als ihn eine ältere Dame ansprach. Wolter sagte ihr, er spüre seine Füße nicht mehr – sie holte sofort Hilfe. Im Krankenhaus stellten die Ärzte dann Erfrierungen zweiten Grades fest. Mehr über die Geschichte des 63-Jährigen und wie er heute lebt, erfahren Sie weiter unten in der Rubrik „Durchgecheckt“ (Abo-Version).
Wie viele Obdachlose tatsächlich mitten unter uns in Berlin leben, will
Sozialsenatorin Elke Breitenbach im Januar zählen lassen – falls Sie mitmachen wollen: Infos zur „Nacht der Solidarität“ gibt es hier. Und wenn Sie mehr über die Arbeit der Stadtmission und den Einsatz der Kältebusse lesen wollen, empfehle ich Ihnen diesen Artikel hier.
Telegramm
„Knutschen statt Knallen“ heißt die neueste Idee des Senats – am Montag startet dazu eine Kampagne, die der Silvesterböllerei mit ganz viel Liebe die Lunte aushauchen soll. Dass auch Knutschen Krach machen kann, wusste allerdings schon Søren Kierkegaard: „Bald sind es schnalzende, bald zischende, bald klatschende, bald knallende, bald dröhnende“ Laute, beobachtete der dänische Philosoph im Jahr 1843. Dagegen dürfte selbst das „Funke Böllerset FKB-1 Kawumm“ für 11,95 Euro schamvoll erröten.
Bischof Christian Stäblein hat sich offenbar zu früh gefreut auf ein besonderes Ereignis am 1. Advent: Eine für den morgigen Sonntag um 15 Uhr angekündigte „Predigt zur Wiedereröffnung der Friedrichswerderschen Kirche“ entfällt und zwar kommentarlos. Den ersten Zugriff auf das sanierte Gotteshaus hat bis zum Jahr 2023 die Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Das klingt nach einem coolen Job: Die BVG sucht Mitarbeiter im Sonderbetriebsmanagement u.a. für die Organisation von U-Bahn-Cabriofahrten. Vielleicht doch eher was für nächsten Sommer.
Ohne die Vereinsauflösung der „Europäischen Jonglierkonvention“ mit Sitz in Berlin hätten wir wohl nie von der Existenz derselben erfahren – irgendwie halten wir hier einfach zu viele Infobälle gleichzeitig in der Luft. (Amtsblatt S. 7627)
Die Petition zum Wiederaufbau des Anhalter Bahnhofs kommt nicht richtig voran – nach bald einem Jahr sind dort gerade mal 218 Unterstützer*innen registriert. Na ja, was soll’s – Trampen ist eh out. (Wer sich’s zumindest mal anschauen will.)
In Herzensangelegenheiten ist unser Kollege Ingo Bach Spezialist – das hat er u.a. mit seinem Gesundheitsmagazin zur Kardiologie gezeigt. Für seinen neuesten Beitrag besuchte er das Herzzentrum Bernau (hier zu lesen), wo es heute in Kooperation mit dem Tagesspiegel etwas ganz Besonderes gibt: Gleich zwei OP’s werden in einem Livestream gezeigt. Wenn Sie vor dem Bildschirm dabei sein wollen: Hier erfahren Sie, wie es geht.
Christoph Markschies wurde gestern zum künftigen Präsidenten der Akademie der Wissenschaften gewählt – er löst am 4.6.2020 Martin Grötschel ab.
Heute ist „Bleib-zu-Hause-weil-es-dir-gut-geht-Tag“ – ins Leben gerufen von den Initiatoren des „Tags der sinnlosen Anrufbeantworter-Nachrichten“ (30. Januar) und des „Internationalen Tags der Frustrationsschreie“ (12. Oktober). Aua… Ich gründe übrigens gerade den Club der sinnlosen „Tage des irgendwas“-Tage.
Durchgecheckt
Hermann Wolter (63) lebte 33 Jahre lang immer wieder auf der Straße, knapp 20 davon in Berlin. Mittlerweile bezieht er die Grundsicherung und hat ein festes Zuhause gefunden.
Herr Wolter, wie geht es Ihnen?
Blendend. Ich lebe in einer 42-Quadratmeter-Wohnung mit Balkon – den ich übrigens mal aufräumen müsste. Und ich habe einen Fernseher. Mein größter Luxus, weil ich so ein Nachrichtenfreak bin. Ich will immer und über alles Bescheid wissen.
Vor sechs Jahren sah die Situation komplett anders aus. Sie hatten kein Geld, keine Wohnung, keinen Personalausweis, keine Krankenversicherung. Man kannte Sie als den „Obdachlosen aus dem Grunewald“.
Eigentlich bin ich gelernter Kaufmann, habe 10 Jahre in dem Beruf gearbeitet und mich dann aus meinem alten Leben verabschiedet. Erst bin ich rumgereist, habe Geld als Putzkraft und als Teilnehmer von Pharmastudien verdient, dann bin ich in Berlin und im Grunewald gelandet. Da habe ich mit meinem Schlafsack auf einer Isomatte gepennt. Ein paar Wildschweine waren da auch. Die waren meine Freunde, meine besten. Morgens um fünf Uhr bin ich immer zur Bahnhofsmission gelaufen – die kannte ich schon aus Erzählungen – um etwas zu essen, dann bis zum Mittagessen durch die Stadt und danach wieder zurück. 20 Kilometer am Tag. Dafür hatte ich meine Ruhe. Als Obdachlosen habe ich mich nie gesehen, sondern als Abenteurer. Ein Abenteurer am Limit. Ich war da immer optimistisch. Selbst Minus 28 Grad habe ich überlebt. Aber an diesem einen Tag im Dezember, da hätte ich auch sterben können.
Der 6. Dezember 2013 – es gab damals einige Artikel in der Presse.
Ich hatte die Nacht auf einer Parkbank am Halensee verbracht, als mich eine ältere Dame ansprach und fragte, ob mir nicht kalt sei. Als ich ihr sagte, dass ich meine Füße nicht mehr spüren kann, holte sie Hilfe und ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Ich hatte Erfrierungen zweiten Grades, die Füße waren blau-rot und wurden mit Wärme behandelt und verbunden. Danach bin ich direkt zurück auf die Straße, die verfrorenen Stellen wurden wund und ich habe gemerkt, dass ich es nicht schaffe. Ich bin dann wieder zur Bahnhofsmission am Zoo. Die helfen dir, wenn du gar nicht mehr weiter weißt.
Wie ging es weiter?
Ich habe die Genehmigung für ein Zimmer im Übergangshaus der Stadtmission und sozialarbeiterische Unterstützung bekommen. Das Bezirksamt hatte damals gesagt: Der bleibt keine drei Wochen. Aber ganz ehrlich: Besser konnte ich es nicht haben. Ich fand die ja alle nett! 1,5 Jahre war ich da. Dann konnte ich hier in meine erste eigene Wohnung einziehen – und bleiben. In den Wald bin ich nicht mehr gegangen. Das hat sich abgenutzt.
Der Bahnhof Zoo, die Erinnerungen an Ihr altes Leben, liegen nur wenige hundert Meter von Ihrem Zuhause entfernt.
Wenn ich heute Obdachlose sehe, kommen da kaum noch Gefühle hoch. Vielleicht bin ich abgestumpft, weil ich das selbst erlebt hab. In gewisser Weise bin ich aber auch stolz, dass ich das geschafft hab. Sowas fängt ja im Kopf an. Wenn du es selber nicht willst, hast du keine Chance. Ich denk dann manchmal: Fangt halt endlich mal an. Lasst euch helfen.
Einige wollen das nicht…
Ja, klar, weil das Problem ist, dass du immer erstmal in ein Mehrbettzimmer kommst. Da sind dann sechs Besoffene, die wollen, dass du ihnen Bier kaufst und da sollst du dann pennen. Da geht man lieber wieder auf die Straße. Was es bräuchte, wären Einzelzimmer. Da würden einfache Container schon reichen! Platz wäre ja genug.
Wochniks Wochenende
Die besten Berlin-Tipps für drinnen, draußen und drumherum.
48h Berlin
Samstagmorgen – Wer sich unterwegs gerne in interessanten Gedanken verliert, dürfte sich in der letzten Zeit desöfteren in der Zukunft wiedergefunden haben. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man mancherorts nämlich schon seit Ende Oktober glauben, es sei längst Weihnachten – jedes Jahr das gleiche Spiel. Wer sich trotz Weihnachts- Omnipräsenz nicht länger gedulden will, versuche diesen Trick aus Zurück in die Zukunft III: Man beschleunige einfach eine Dampflock mit eingebautem Flux-Kompensator ordentlich und springe so durch die Zeit. Passenderweise begibt sich eine Schlepptender-Dampflokomotive 50 3610 samt Anhänger heute um 11.30 Uhr ab Bahnhof Gesundbrunnen auf „Weihnachtliche Stadtrundfahrt“. Sofern sie nicht wirklich gleich durch die Zeit spingt, bietet sie einen Anblick aus vergangenen Zeiten. Das Spektakel wird voraussichtlich mit einem Kaffee vom Baldon in der Hand von einer der direkt darüber gelegenen Terrassen des Lobe Block aus bestens zu beobachten sein, womit der Stilbruch stilvoll vollzogen wäre.
Samstagmittag – Wir bleiben noch im Wedding: Drei Stunden zwischen Welt- und Kiezgeschichte bietet die „City Walking Tour“ durch das Afrikanische Viertel im Wedding. Der Pfad führt nicht nur durch Straßen, die großenteils Namen afrikanischer Städte und Länder tragen, sondern auch durch die deutsch-afrikanische Kulturgeschichte. Zur optionalen Vertiefung des interkulturellen Dialogs dient die anschließende Einkehr in einem afrikanischen Restaurant mit reichlich Gesprächsstoff für weitere zwei bis drei Stunden. Treffpunkt ist um 15 Uhr vor der Seestraße 44A. Die Teilnahmegebühr (1 bis 18 Euro) ist freiwillig. Wer sie entrichtet, bekommt einen Erinnerungsbecher mit Infomaterial.
Samstagabend – Statt in die geografische Ferne führt das Berliner Duo Amnesia Scanner in die historische Distanz – nur um auf hyper-zeitgenössische Weise zu zeigen, dass vergangen Geglaubtes eigentlich nie einfach abgeschlossen ist. Mit Furcht vor Göttern, Engeln und Prophezeiungen werden Geister der Geschichte in ihrer Performance-Installation „Anesthesia Scammer“ heraufbeschworen. Vermutlich in gewohnt ohrenbetäubender Lautstärke und einer am Limit arbeitenden Tontechnik. Ab 20 Uhr im Kraftwerk, Köpenicker Straße 70. Tickets ab 18 Euro gibt es auch an der Abendkasse.
Sonntagmorgen stehen viele Arbeitnehmer bereits unter Stress, weil das Wochenende halb vorbei ist. Es gibt Menschen, die nur um der Wochenenden und Urlaube willen arbeiten. Es gibt aber auch Menschen, die sich Auszeiten nur gönnen, um bei der anschließenden Arbeit wieder volle Leistung bringen zu können. Dieses Wochenende wird im Haus der Berliner Festspiele bei einer Diskussionsrunde mit einem Postzusteller und DHL-Betriebsrat, einem Unternehmer, einem Autor und Schriftsteller und einer Talentgewinnungsexpertin darüber diskutiert, wie wir arbeiten wollen. 11 Uhr im Foyer der Schaperstraße 24, Eintritt frei.
Sonntagmittag – Apropos Arbeit und Zeit: Sogenannte „Durational Works“, also Dauer-Arbeiten, bezeichnen in der Regel Kunst, die ganz wesentlich von der bloßen Zeit lebt, über die sich ihre Herstellung oder Aufführungsdauer erstreckt. Die Klanginstallation „Minute/Year“ des Künstlerduos Kata Kovács und Tom O’Doherty zeichnet seit dem 1. Januar 2016 jeden Tag automatisch eine Minute akustisch auf. Jährlich wechselt dabei der Raum. Bei jeder neuen Aufnahme wird zugleich über Lautsprecher ein Echo aller vorangegangenen Tage abgespielt, das sich in jede neue Aufnahme mischt. Der Aufnahme- und Wiedergabe-Vorgang wiederholt sich täglich um exakt 20.19 Uhr (im Vorjahr um 20.18 Uhr, etc) – somit dauert die eigentliche Veranstaltung genau eine Minute. Für alle, die es nicht so mit der Pünktlichkeit haben, haben die Künstlerinnen in der Grüntaler9 eine umfassende audiovisuelle Dokumentation des Projektes aufgebaut, zu sehen von 16 bis 21 Uhr in der Grüntaler Straße 9, U-Bhf Gesundbrunnen.
Sonntagabend – Es schmerzt immer ein wenig, wenn die Konzerte vermeintlicher Underground-Künstlerinnen schon Wochen im Voraus ausverkauft sind. So auch bei Tirzah, für deren Konzert im Silent Green längst keine Karten mehr im Vorverkauf erhältlich sind. Umso besser für DISSIDENTS XI im Petersburg Art Space. Kunst braucht bekanntlich Raum und wenn alle bei Tirzah sind, wie es den Anschein hat, sollte der hier nicht allzu knapp werden. Die Schriftsteller Norbert Langer und Mathias Traxler lesen, zwei Life-Acts machen Musik, deren Instrumentarium in alle Richtungen zugleich verweist und sich folglich jeder Kategorisierung verwehrt: Die arabische Knickhalslaute Oud, Cello, Kontrabass, Stimme, Schlagwerk und Elektronik. Ab 20 Uhr in der Kaiserin-Augusta-Allee 101, S-Bhf Beusselstraße.
Mein Wochenende mit
Das Künstlerduo Kate Kovács und Tom O'Doherty halten in ihrem Langzeit-Kunstprojekt Minute/Year die Zeit an: Seit dem 1. Januar 2016 zeichnen sie täglich eine Minute (im Jahre 2019 täglich um 20.19 Uhr) des Tages auf und bauen so ein Archiv der Minuten, Tage und Jahre.
„Hoffentlich sind wir am Samstag mit dem Aufbau fertig und können endlich mal wieder ausschlafen. Zur Belohnung für den erfolgreichen Aufbau gönnen wir uns Kirschstreuselkuchen von Omas Rollender Backstube, die kurioserweise am Boxhagener und am Kollwitzplatz zugleich anzutreffen ist – eine sehr umtriebige Oma ist das. Dann machen wir den Ausstellungsraum gemütlich, warm und einladend, anschließend dokumentieren wir die Ausstellung für unsere Mappe. Und warten auf unsere Ausstellungsbesucher – die Show startet um 16 Uhr. Sicher sind wir um 20.19 Uhr noch in der Grüntaler9, wenn der Vorgang, um den sich die ganze Ausstellung dreht, für eine Minute, hörbar wird. Alles, was danach geschieht, liegt im Ungewissen. Am Sonntag können wir wieder an einigen, wegen des Aufbaus brach liegenden Projekten arbeiten – oder schon mal den Umzug unserer Installation nach Linz planen, wo sie das Jahr 2020 verbringen wird, in der Galerie bb15. Den Abend verbringen wir beim Konzert im Donau115, wo unter anderem die großartige Lisa Simpson mit Sewing Machine auftritt.“
Leseempfehlungen
Das Wunderbare an historischen Dokumenten sind in ihnen festgehaltene Erstbeobachtungen. Was später einmal Allgemeinwissen wird, kulturelle Spielart oder Klischee, ist in ihnen noch echte Entdeckung, noch nicht tausendfach wiederholt, über Jahre an anderen Positionen geschliffen und irgendwo diskursiv „verortet“. Eben diesen Status hat auch die im Verbrecher Verlag erschienene Berliner Trilogie von Aras Ören, dessen drei Gedichtbände aus den Jahren 1973, 74 und 80, wie Friedrich Christian Delius schreibt, „den überraschenden poetisch-präzisen Blick eines Türken aus der bis dahin schweigenden Mehrheit der ersten Generation der Gastarbeiter auf Berliner und deutsche Realitäten“ enthalten. Immer wieder gibt es Abhandlungen darüber, was Berlin eigentlich ist, was es für wen ausmacht und wer es völlig falsch versteht. Steile These: Wer diese über vierzig Jahre alten Texte nicht kennt – und in ihrer Entstehungszeit auch nicht dabei war –, kann über den Charakter des heutigen Berlin bestenfalls spekulieren. Kommenden Mittwoch um 19 Uhr veranstaltet die Heinrich-Böll-Stiftung eine Buchvorstellung, zu der neben Ören auch Delius, Hatice Akyün, Cem Özdemir, Robert Stadlober und Jörg Sundermeier erwartet werden.
Wochenrätsel
Laut der HDI Berufe-Studie haben Berliner Berufstätige am seltensten
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Zum Schluss noch ein Hinweis in Sachen Zeitreisen, ein Thema, das findige Geister schon jetzt auf Geschäftsideen bringt: Die Betreiber des „Timetravelfund“ zum Beispiel meinen, dass Zeitreisen nicht nur wahrscheinlich eines Tages möglich sein wird, sondern, aller bekannten Marktlogik nach, auch immer billiger werden sollte, je weiter es sich verbreitet. Wer also heute läppische zehn Dollar einzahlt und lang genug liegen lässt, profitiert einerseits vom Zins der Anlage über Jahrhunderte und zugleich vom Fall der Zeitreisekosten in ferner Zukunft. Heute angelegte zehn Dollar sollen dann für die Abholung und Transport in die Zukunft, anschließende körperliche Verjüngung und sogar ein bequemes Auskommen in ferner Zukunft genügen. Was die Betreiber dabei klar übersehen: Wir leben doch längst in der Zukunft. Stanley Kubricks wundersame „Odysee im Weltraum“ haben wir bereits 2001 überschritten. 2015 hätten wir nach „Zurück in die Zukunft II“ von Schwebemobilen umgeben sein sollen. Und dieses Wochenende endet mit dem November 2019 der Monat, in dem der Original Blade-Runner spielt.
Haben Sie ein schönes Novemberende und kommen Sie gut in die Zukunft.
Ihr Lorenz Maroldt