Ukraine-Botschafter kritisiert die deutsche Politik
als Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine, am Donnerstag vergangener Woche in seiner Dahlemer Residenz unsere Kollegin Claudia von Salzen und den Tagesspiegel-Hauptstadtbüroleiter Georg Ismar zum Interview traf, war Butscha nur der Name eines Vororts von Kiew, den meisten Menschen außerhalb des überfallenen Landes völlig unbekannt. Melnyk beschrieb, warum er sich von der deutschen Politik im Stich gelassen fühlt – und auch von wem:
+ Über den Tag des Kriegsbeginns: „Ich habe am frühen Vormittag Gespräche bei allen wichtigen Akteuren angefragt, Scholz, Baerbock, Lambrecht, Lindner, Habeck, alle Fraktionsspitzen der Ampel und auch Oppositionsführer Merz. Lindner war übrigens einer der wenigen, die sich mit mir an diesem Tag getroffen haben. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.“
+ Über Christian Lindner: „Was kann man jetzt noch tun, fragte Lindner. Jetzt ist endlich der Zeitpunkt gekommen, dass die Deutschen uns Waffen liefern, sagte ich. Er meinte, dafür sei es viel zu spät. Jetzt mache es keinen Sinn, das hätte man früher tun können. „Ich habe erwidert, wir werden kämpfen. Lindner schaute mich mit diesem Lächeln an, das ich nicht vergessen kann. Er saß da, teilnahmslos.“
+ Über Christine Lambrecht: „Am 17. März war ich das letzte Mal bei ihr. Das Treffen war zwar freundlich, aber sehr angespannt. Frau Lambrecht hat mitgeteilt, dass sie aus Sicherheitsgründen zu den Waffenlieferungen nichts mehr sagen würde. Die Ministerin hat beschlossen, uns erst dann zu informieren, wenn die Lieferung erfolgt ist.“
+ Über Annalena Baerbock: „Es gibt da bisher gar keinen persönlichen Kontakt. Merkwürdig. Ich habe Ministerin Baerbock bis heute kein einziges Mal getroffen, obwohl ich seit dem Kriegsausbruch immer wieder Gesprächsanfragen gestellt habe.“
+ Über Robert Habeck: „Er ist der Einzige in der Regierung, mit dem ich regelmäßig einen engen Kontakt habe, der antwortet, wenn ich ihm eine SMS schreibe.“
+ Über Frank-Walter Steinmeier: „Ich habe auch Steinmeier nach dem Kriegsausbruch um ein Gespräch gebeten. Keine Reaktion. (…) Feingefühl ist für Steinmeier ein Fremdwort, zumindest in Bezug auf die Ukraine. (…) Für Steinmeier war und bleibt das Verhältnis zu Russland etwas Fundamentales, ja Heiliges, egal was geschieht, auch der Angriffskrieg spielt da keine große Rolle. (…) Steinmeier hat seit Jahrzehnten ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft. Darin sind viele Leute verwickelt, die jetzt in der Ampel das Sagen haben. (…) Ich kaufe Herrn Steinmeier nicht ab, dass er seine Fehler in der Russland-Politik erkannt hat.“
Und dann war da noch dieser eine Satz, der am Sonntag, als das Interview im Tagesspiegel erschien, auf mörderische Weise von der Wirklichkeit überholt wurde:
„Den Deutschen ist bis heute die Dimension des russischen Überfalls nicht klar.“
Dann kamen die Nachrichten und Bilder aus Butscha. Was über das Massaker bisher bekannt ist, haben Oliver Bilger und Sandra Lumetsberger hier für Sie aufgeschrieben.