Jüdinnen und Juden in Berlin – „Wir waren mal so viele mehr“

Zum Holocaust-Gedenktag haben wir 40 jüdische Berliner um einen Satz gebeten – über ihre Wünsche, Hoffnungen und Ängste. Das haben sie geantwortet. Von Ann-Kathrin Hipp

Jüdinnen und Juden in Berlin – „Wir waren mal so viele mehr“
Foto: Doris Spiekermann-Klaas

nie wieder.

Heute vor 75 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit und den menschenverachtenden Gräueltaten der Deutschen an diesem Ort ein Ende gesetzt. 1,1 Millionen Menschen brachten die Nazis hier um: vor allem Juden, aber auch Roma, Kriegsgefangene und Homosexuelle. Sie nahmen ihnen ihre Habseligkeiten, ihre Würde und letztlich das Leben.

Er wünschte, wir Deutsche hätten für immer aus der Geschichte gelernt, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am vergangenen Donnerstag in der Gedenkstätte Yad Vashem. „Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden. Das kann ich nicht sagen, wenn unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an israelischer Politik kruder Antisemitismus hervorbricht. Das kann ich nicht sagen, wenn nur eine schwere Holztür verhindert, dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichtet.“

Wir alle sollten uns das bewusst machen. Gegen das Vergessen. Gegen die Wiederkehr. Den Holocaust-Gedenktag haben wir zum Anlass genommen und Berlinerinnen und Berliner jüdischen Glaubens um einen Satz gebeten – über jüdisches Leben in Berlin heute, über Wünsche, Hoffnungen und Ängste. Für einen Blick auf Gegenwart und Zukunft. 40 Antworten.

Eric Adamson (28): „In Berlin jüdisch zu sein, bedeutet für mich, selbstbewusst in der Stadt zu leben, aus der mein Großvater einst fliehen musste und gleichzeitig die Befürchtung zu haben, diese Stadt eines Tages auch verlassen zu müssen.“

Elio Adler (49, Vorstandsvorsitzender WerteInitiative e.V.): „Aus der Geschichte lernen gilt auch für uns Juden; ‚Nie wieder‘ reicht als Basis nicht mehr – wir müssen uns unüberhörbar einbringen, ‚wofür‘ diese Gesellschaft stehen soll.“

Debora Antmann (30): „Geographisch liegt Berlin irgendwo zwischen Empowerment und Schmerz: Während unsere eigenen jüdischen Stimmen, die starken, kämpferischen und widerständigen immer lauter werden, werden es auch die von rechts und verschieben dabei die Grenzen des Sagbaren unter unsere Haut.“

Mark Belkin (19, studiert aktuell in Münster): „Ich fühle mich wohl in Münster mit seiner einen Synagoge, schwärme aber gelegentlich von den vielen in Berlin.“

Oliver Bradley (54, European Jewish Association und Europe Israel Press Association): „Ich wünsche mir nicht nur, dass Opfer und deren Freunde eine unverhandelbare Nulltoleranz gegenüber in- und ausländischen Hasspredigern, Rassisten und deren Apologeten erbringen, sondern auch zusätzliche Milliardeninvestitionen in die Erweiterung und Befestigung von zuvor erfolgreich nachgewiesenen Bildungs- und Sozialprojekten, die endlich zum nachhaltigen Abbau von strukturelle Vorurteilen führen können.“

Mike Delberg (30): „Ich bin 100 Prozent jüdisch und 100 Prozent deutsch. Meine Kippa trage ich mit Stolz – jeden Tag und überall.“

Daniel Donskoy (30, Schauspieler): „Ich sage nicht, dass Berlin kein Antisemitismus-Problem hat, aber glücklicherweise überwiegt in der deutschen Hauptstadt noch der Gedanke der Freiheit. Hoffenlich bleibt das so.“

Yorai Feinberg (38, Restaurantbesitzer): „Ich wünsche mir, dass die Menschen in diesem Land mich aufgrund meines Verhaltens lieben oder hassen und nicht wegen meiner Herkunft.“

Ruben Gerczikow (23, Vorstandsmitglied der Jüdischen Studierendenunion Deutschland): „Ich würde mir einen konsequenteren Kampf gegen JEDE Form von Antisemitismus wünschen.“

Juna Grossmann (43, Bloggerin): „Wir haben gerade in Berlin das Glück eines vielfältigen jüdischen Lebens auch außerhalb der Gemeindestrukturen, dennoch sind wir von einer Normalität auch 2020 noch sehr weit entfernt, vielleicht weiter als vor 20 Jahren.“

Michael Groys (28): „Das Geheimnis der Erinnerung heißt Erlösung – dafür steht der Holocaustgedenktag.“

Walter Homolka (55, Rabbiner  und Hochschullehrer): „Aus der unermesslichen Schande Deutschlands ist ein demokratisches Gemeinwesen erstanden, das unser aller Respekt verdient und die Bereitschaft, es gegen heutige Feinde zu verteidigen.“

Jeremy Issacharoff (65, Botschafter Israels in Deutschland): „Jüdisch in Berlin leben heißt, jeden Tag Zeitreisender zwischen der Gegenwart und der schrecklichen Vergangenheit zu sein und dabei zu hoffen, dass die Vergangenheit nie wieder unsere Zukunft in so verheerender Weise beeinträchtigen wird.“

Liliana Jendroska (25): „Als progressive Jüdin wünsche ich mir mehr Sichtbarkeit und Förderung von liberalem jüdischen Leben in Berlin und ein Bewusstsein der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft über die Vielfältigkeit jüdischer Menschen und Lebensweisen in Deutschland und der Welt.“

Anetta Kahane (65, Autorin): „In Berlin zu leben macht mich froh und oft todunglücklich. Das hängt nicht vom Wetter ab, sondern davon, wie sehr ich gerade die Juden dieser Stadt vermisse. Mal nebenbei, mal heftig aber immer tut es furchtbar weh. Wir waren mal so viele mehr.“

Leonard Kaminski (32): „Ich liebe mein jüdisches Leben in Berlin, weil mir nichts fehlt und ich mich verwirklichen kann, wie ich es möchte – aber ich frage mich schon länger: Wie lange noch?“

Maikel Kletsel (25): „In Berlin offen als Jude leben bedeutet leider auch in Gefahr leben, was mich tief traurig macht.“

Sigmount Königsberg (Vorstand Jüdische Gemeinde Berlin): „Imagine all the people/ Living life in peace /(…)/And the world will be as one.“

Michael Levin (18): „Das Judentum in Berlin ist eine aufblühende Community bestehend aus Juden mit verschiedenen Herkünften, Sprachen und Wertvorstellungen.“

Sergey Lagodinsky (44, Grüne): „Juden leben in Deutschland nicht, damit diese Gesellschaft sich dadurch besser fühlt – sie sind kein Ersatz für die Ermordeten und keine Projektion der gesellschaftlichen Erinnerung, sondern ein selbstverständlicher Bestandteil unserer Gesellschaft.“

Lea Levy-Lambert (27): „Es herrscht noch so viel Unwissen über den Holocaust und das Judentum: Als ich Kollegen und Freunden von meinem Besuch im Haus der Wannsee-Konferenz erzählte, wussten viele gar nicht, was das ist.“

Armin Langer (29, Koordinator Salaam-Schalom Initiative): „In keiner Stadt auf der Welt außerhalb von Israel wächst die jüdische Bevölkerung dermaßen wie in Berlin – darin liegen große Chancen für die Zukunft, die wir nicht vertun dürfen.“

Myriam: „Ich wünschte, die Bedeutung des Judentums als Ursprungsreligion für die anderen abrahamitischen Religionen würde mehr gewürdigt werden und wir würden durch die vielen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten eine Verbundenheit miteinander erkennen.“

Nina Peretz (37, Freunde der Synagoge Fraenkelufer) „Ein Haus für die jüdische Gemeinschaft Berlins in all ihrer Vielfalt zu bauen, bedeutet: Wir sind hier, um zu bleiben.“

Monty Ott (Vorsitzender Keshet Deutschland e.V.): „Jüdischsein in Deutschland steckt voller Widersprüche und das ist wundervoll; ich wünsche mir, dass jüdisches Leben nicht nur auf bestimmte, gängige Vorstellungen verengt, sondern in seiner Vielfältigkeit wahrgenommen wird.“

Shlomit Tripp (49): „Jüdisches Leben in Berlin heute, bedeutet ‚Hummus for Peace‘ essen, ‚Pride-Schabbat‘ feiern und zu Chanukka mit tausend Menschen am Brandenburger Tor frieren.“

Liam Rickertsen (Rabbiner): „Dass junge Deutsche es auf sich nehmen, ein freiwilliges Jahr in der Gedenkstätte Auschwitz zu verbringen, um Besuchergruppen deutscher Jugendlicher zu informieren und zu führen, macht mir Hoffnung, dass es nach über 75 Jahren doch irgendwann möglich wird, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder selbstverständlich sein wird und unsere Einrichtungen nicht permanent durch Polizeipräsenz und Sicherheitsdienste geschützt werden müssen.“

Patricia Romanowsky (31): „Ich wünsche mir weniger von dem mulmigen Gefühl, wenn ich mit kippatragenden Freunden unterwegs bin und dafür mehr Momente wie den mit meinem türkischstämmigen Taxifahrer Mustafa – als ich von einem jüdischen Event kam und davon erzählte, meinte er nur: Es ist egal, welche Religion wir haben, wir sind alle Menschen.“

Yoram Roth (51): „Unsere Geschichte ist lang, ich bin dankbar, dass mein Vater Rafael als einer der Initiatoren des Jüdischen Museum in Berlin helfen konnte, die ganze Story zu erzählen.“

Ben Salomo (43, Rapper): „Ich würde mir wünschen, dass ich diese ritualisierten ‚Nie wieder‘-Bekundungen vieler deutscher Politiker endlich ernst nehmen könnte, doch das schaffe ich leider nicht, wenn ich mitansehen muss, wie sie islamistischen Regimen, die den Holocaust leugnen, so partnerschaftlich gegenüberstehen. Ich würde mir wünschen, dass die Berichterstattung zum Israel-Palästina-Konflikt endlich ausgeglichen gehandhabt wird – und dass die Geschichte des Holocausts und der Gründung Israels der neuen Generation ehrlich und lückenlos vermittelt werden.“

Sarah Serebrinski (41, Geschäftsführerin Rabbinerseminar zu Berlin): „Bei all der berechtigten Wut über den ‚wiederaufkeimenden’ Antisemitismus in Deutschland, schaue ich auch hoffnungsvoll auf die positive Entwicklung jüdischen Lebens in Deutschland, mit immer mehr jüdischen Gemeinden, einem diversen Judentum, Rabbinerausbildungen, Kulturschaffenden und einer aktiven Jugend – wir sind hier um zu bleiben.“

Shahak Shapira (31, Künstler): „Mein Wunsch ist, von dem eintönigen Interesse der Presse für Juden, das nur im Zusammenhang mit Antisemitismus stattfindet und Menschen jüdischer Herkunft ausschließlich als Opfer darstellst, verschont zu werden. Unsere Gesellschaft muss sich endlich anderen Kulturen aufrichtig öffnen, um voranzukommen.“

Anja Siegemund (53, Direktorin Stiftung Neue Synagoge Berlin): „Viel Neugier auf und Lernen-Wollen über Judentümer, jüdische Geschichte und Kultur, und zwar als integraler Bestandteil der Gesellschaft, und damit gleichzeitig das Aufbrechen von Zuschreibungen, was ‚das Eigene‘ und was ‚das Andere‘ ist – das wünsche ich mir.

Allegra Silbiger (48): „Vor 20 Jahren bin ich mit vorsichtigem Optimismus in die Stadt gezogen, aus der meine Großeltern 1933 geflohen sind, und nun frage ich mich fast täglich, ob ich den Moment rechtzeitig erkennen werde, in dem ich mit meinen Kindern weg muss.“

Hermann Simon (72, Gründungsdirektor Centrum Judaicum): „Die Vielfalt jüdischen Lebens in Berlin ist gleichermaßen unerwartet wie erfreulich.“

Anna Staroselski (23, stllv. Vorsitzende Jüdische Studierendenunion Deutschland): „Aus der Geschichte zu lernen, bedeutet Verantwortung zu übernehmen und die Zukunft zu gestalten – ich sehne mich nach einer differenzierten Debattenkultur und einem gesunden gesellschaftspolitischen Klima. Schluss mit Hass und Ausgrenzung!“

Yehuda Teichtal (48, Rabbiner): „75 Jahre nach Auschwitz wird die Lehre der Vergangenheit der Gegenwart in Deutschland als Lehre stehen, damit wir zu einem positiven Miteinander, der Stärkung des jüdischen Lebens und der Völkerverständigung aller Menschen beitragen.“

Fabian Wolff (30): „Berlin ist dann am besten, wenn sich hier kurz erahnen lässt, wie schön und kompliziert jüdisches Leben in Brooklyn, der Upper West Side, in Tel Aviv oder in London sein muss.“

Michael Wolffsohn (72, Historiker): „Ich wünsche mir, dass Politik, Polizei, Publizistik und das ‚Publikum‘, also alle, dafür sorgen, dass die diversen Nahostkonflikte, wenn überhaupt, dort stattfinden und Berlin nicht weiter eine der Nebenfronten ist.“

Michael Wuliger (68, Publizist): „Wir bewegen uns mittlerweile in Deutschland – und auch hier in Berlin – auf sehr dünnem Eis; ich weiß nicht, wie lange es noch trägt.“

Mehr Beiträge zum Holocaust-Gedenktag finden Sie unter: www.tagesspiegel.de/themen/nie-wieder.