Ob das gut geht? Der Schulstart in Berlin ist ein Experiment mit offenem Ausgang
Für 350.000 Berliner SchülerInnen beginnt nächste Woche die Schule. Doch die Stadt ist schlecht vorbereitet. Dabei wäre genug Zeit gewesen. Ein Kommentar von Anke Myrrhe
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Es war der große Tag für Sandra Scheeres, die mündliche Prüfung, für die sie sechs Monate lang gelernt hatte (inkl. zuletzt sechs Wochen Intensivkurs). Doch im Mündlichen war die Schulsenatorin noch nie sonderlich begabt, zumindest war eine Verbesserung der Note nach den erbrachten Vorleistungen eher nicht zu erwarten. Bei ihrem Referat gestern Mittag, 14 Uhr im Roten Rathaus, waren es dann aber vor allem die inhaltlichen Mängel, die den Gesamteindruck eines unzureichend vorbereiteten Prüflings hinterließen.
In sechs Tagen werden 350.000 Berliner Schülerinnen und Schüler zurück in den Regelunterricht geschickt. Und auch in sechs Wochen Sommerferien ist dem Senat kaum etwas eingefallen, um das Ansteckungsrisiko in den Schulen zu verringern, außer die Abstandsregel aufzuheben (weil sie nicht eingehalten werden kann) und das Tragen von Masken im Schulgebäude vorzuschreiben (nicht aber im Unterricht, weil das nicht eingehalten werden kann). Ach, und ein wenig Lüften wäre schön, etwa alle 45 Minuten (Experten empfehlen alle 20 Minuten), eine Verpflichtung dazu gibt es aber nicht.
Die Schulen fühlen sich zurecht völlig allein gelassen. Masken für vergessliche Schüler sollen sie selbst besorgen, im Einzelhandel oder im Internet („Das muss doch möglich sein“) und: „Wenn sich Fenster nicht öffnen lassen, weil sie defekt sind, muss sich der Pädagoge darum kümmern.“ Da dürfen dann die Lehrer nach jeder Stunde am Fenster stehen und bewachen, dass niemand rausfällt. Wäre es wirklich so undenkbar gewesen, in sechs Wochen alle defekten Fenster in den Schulen zu reparieren? Wäre es nicht möglich gewesen (und billiger), Ersatzmasken für alle Schulen gesammelt zu bestellen? Und eine klare Handreichung zu liefern, was bei Nichteinhaltung und Konflikten zu tun ist? („Es gibt doch ein Bußgeld, oder?“) Und was passiert eigentlich, wenn es draußen kälter wird?
Zumindest sei nun umfangreiches Unterrichtsmaterial für den Plan B erstellt worden, sagte Scheeres und deutete einen dicken Packen mit ihren Fingern an. „Wenn sich die Infektionszahlen verschlechtern, muss man darüber reden, welchen Weg wir gehen.“ Während andere Bundesländer schon jetzt einen detaillierten Plan für den Fall einer zweiten Welle vorgelegt haben, hat Scheeres noch nicht einmal die (geplanten 100) Lehrkräfte gefunden, die in einer Art Feuerwehr-Pool coronabedingt ausfallende Lehrer ersetzen sollen. Das sind nach Scheeres Rechnung allerdings rund 2000, die Gewerkschaft rechnet mit dem Doppelten.
Doch es war schwierig genug den höchsten Einstellungsbedarf an Lehrern seit dem Mauerfall überhaupt zu bewältigen: Von den 2500 gesuchten Lehrern fehlen auch ohne Pandemierechnung noch 90, 405 Lehrer haben gekündigt, alle Reserven an Quer- und Seiteneinsteigern wurden schon ausgeschöpft (rund 900). Auch deswegen sind alternative Konzepte wie geteilte Klassen und eine Mischung aus Präsenz- und Hausunterricht in kleineren Gruppen wohl verworfen worden.
Berlin hat keine Reserven mehr. Die Rekordzahl von 36.800 Erstklässlern ist in dieser ständig wachsenden Stadt kaum noch zu bewältigen. Auch deswegen werden die Kinder nun in ein Experiment mit offenem Ausgang geschickt, in der Hoffnung, dass irgendwie alles gut geht. Ist es doch schließlich bisher auch? Nur dass ein solches Experiment in anderen Ländern bereits zu erneuten Schulschließungen geführt hat. Berlin hätte schlauer sein können. Vermutlich schon eine Spätfolge des verkorksten Bildungssystems.