Beratung für Kinder und Jugendliche: Erste Hilfsstelle für minderjährige Opfer von Menschenhandel
In Berlin eröffnet die erste bundesweite Beratungsstelle für Minderjährige, die Opfer von Menschenhandel wurden. Das Ziel: Sichtbarkeit und Unterstützung für die Betroffenen. Von Robert Ide und Christoph Papenhausen.
Wir bleiben bei einem gleichsam wichtigen wie erschütternden Thema. Am morgigen Mittwoch wird in Berlin die bundesweit erste Beratungsstelle eröffnet „für Minderjährige, die von Menschenhandel betroffen sind“. Betrieben wird sie in Reinickendorf vom Beratungs- und Hilfsverein „In Via“, der als Teil der Mädchen- und Frauensozialarbeit der katholischen Kirche diese Hilfe bereits für erwachsene Frauen anbietet. Im Checkpoint-Gespräch erklärt Projektleiterin Martina Döcker, wie in Berlin Kinder und Jugendliche ausgebeutet werden und wie ihr Schicksal sichtbarer gemacht werden soll.
Frau Döcker, wie läuft der Menschenhandel mit Minderjährigen in den meisten Fällen konkret ab?
Der Menschenhandel mit Minderjährigen und ihre Ausbeutung sind ein sehr komplexes Phänomen. Es handelt sich dabei um eine erhebliche Kindeswohlgefährdung und eine schwere Straftat, die sowohl im Rahmen organisierter Kriminalität als auch im direkten sozialen und familiären Umfeld begangen wird. Der Menschenhandel nutzt Abhängigkeitsverhältnisse zum Zweck der Ausbeutung von Minderjährigen aus. In Deutschland werden Minderjährige sexuell ausgebeutet, zu Bettelei, Arbeitsleistungen oder zur Begehung von Straftaten gezwungen. Die Formen sind vielfältig und die Verläufe sehen sehr unterschiedlich aus. Betroffene Kinder und Jugendliche stammen aus ganz verschiedenen Ländern – zum Beispiel aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Tschechien oder der Slowakei, aus Nicht-EU-Ländern wie Nigeria und Vietnam oder auch aus Deutschland.
Können Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrer Beratungsarbeit nennen?
Die Minderjährige B. wird in ihrem Heimatland in Afrika angesprochen. Ihr wird ein besseres Leben in Europa, wo sie die Schule besuchen kann, versprochen. In ihrem Heimatland hat sie keine Chance, einen Beruf zu erlernen und genug Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Kosten für die Reise nach Europa werden für sie übernommen. In Europa angekommen, wird ihr der Pass abgenommen. Sie wird zunächst in einem anderen europäischen Land zur Prostitution gezwungen und später im Alter von 15 Jahren nach Deutschland gebracht. Sie arbeitet hier jeden Tag. Sie darf keinen Kunden ablehnen. Man sagt ihr, dass sie die Schulden für die Reise aus Afrika, die Kosten für ihre angebliche ‚Berufskleidung‘ sowie Essen und Unterkunft zurückzahlen muss. Ihren Verdienst muss sie an die Menschenhändler abgeben. Da sie die Sprache nicht spricht, sieht sie keine Möglichkeit, zu fliehen oder sich Hilfe zu suchen.
Welche sozialen Hintergründe haben Opfer und Täter?
Die Hintergründe der betroffenen Kinder und Jugendlichen sind sehr unterschiedlich. Einige kommen aus sehr armen Verhältnissen und haben unsichere Zukunftsaussichten, bei anderen spielen psychische Probleme oder Drogenkonsum eine Rolle. Nicht selten bestehen zwischen Betroffenen sowie Täterinnen und Tätern emotionale und wirtschaftliche Abhängigkeiten. Dies macht es sehr schwer, die Dynamiken zu durchbrechen. Auch Eltern oder Vertrauenspersonen der Kinder und Jugendlichen können in die Ausbeutung involviert sein. Bei den Menschenhändlern handelt es sich sowohl um Männer als auch um Frauen.
Wie groß ist das Problem in Berlin?
Das Bundeskriminalamt spricht im ‚Bundeslagebild Menschenhandel‘ für das vergangene Jahr von 226 minderjährigen Opfern sowie 186 Ermittlungsverfahren bundesweit. Wir müssen in diesem Bereich jedoch von einem hohen Dunkelfeld ausgehen. Menschenhandel findet oft im Verborgenen statt und es ist sehr schwierig, Betroffene zu identifizieren. Das Land Berlin führt nun ein Pilotprojekt zur Datensammlung zu Handel mit und Ausbeutung von Minderjährigen durch. Unser Ziel als neue Fachberatungs- und Koordinierungsstelle ist es auch, das Hellfeld zu erweitern – einerseits durch die Aufklärung und Unterstützung von Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe, andererseits durch die Entwicklung von bedarfsgerechten Hilfen. Dafür braucht es aber den schrittweisen Aufbau von Vertrauen zu den minderjährigen Betroffenen.
Ihre Hilfsstelle beklagt insbesondere die „kommerzielle Ausbeutung“ von Kindern und Jugendlichen. Können Sie Beispiele für eine solche Ausbeutung nennen?
Es gibt verschiedene Formen der Ausbeutung. Die kommerzielle sexuelle Ausbeutung beinhaltet den Zwang zur Prostitution sowie die Darstellung sexualisierter Gewalt an Minderjährigen, zum Beispiel im digitalen Raum. Die Arbeitsausbeutung findet entweder im Häuslichen statt, etwa als Kinder- oder Dienstmädchen, oder in ausbeuterischen Betrieben wie Restaurants, Nagelstudios und auf Baustellen. Wenn Minderjährige zu Taschendiebstählen, Drogenhandel oder Einbrüchen gezwungen werden, ist die Rede von Ausbeutung zur Begehung strafbarer Handlungen. Neben diesen Formen gibt es noch die Ausbeutung der Betteltätigkeit, die Ausbeutung zur Organentnahme, den Adoptionshandel sowie den Handel in die Ehe, also die Zwangsverheiratung. Alle Formen haben ein gemeinsames Ziel: die Ausbeutung von Minderjährigen, um einen finanziellen Gewinn zu erzielen.
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