Stellungnahme offenbart noch mehr Probleme bei Berlin-Wahl

Zu früh gelieferte Wahlscheine, zu lange geöffnete Lokale und heftige Hindernisse bei der Briefwahl: eine neue Erklärung der Landeswahlleitung macht nichts besser. Von Lorenz Maroldt

Stellungnahme offenbart noch mehr Probleme bei Berlin-Wahl
Der Superwahltag am 21. September 2021 und sein chaotischer Ablauf in Berlin sind noch lange nicht abgehakt. Foto: Michael Kappeler/dpa

Es gibt neueste Nachrichten von der chaotischsten Wahl der Nachkriegsgeschichte („Made in Berlin“) – die Stellungnahme der Landeswahlleitung zu Einsprüchen an den Wahlprüfungsausschuss des Bundestags (liegt dem Checkpoint vor) offenbart weitere Kuriositäten und Seltsamkeiten, die eine relevante Ergebnisverzerrung möglich erscheinen lassen. So heißt es darin u.a.:

Teilweise wurden die Stimmzettel komplett bereits in der Woche vor der Wahl an die Standorte der Wahllokale ausgeliefert.“

Und warum? Weil „Menge und Gewicht des zu transportierenden Materials“ für die Logistik „eine Herausforderung darstellte“. In „zahlreichen Fällen“ wurde deshalb „lediglich eine Grundausstattung an Stimmzetteln übergeben, der Rest sollte dann am Vormittag des Wahltages ausgeliefert werden“. Hm, am Vormittag des Wahltages? War da nicht gleich noch was? Ach ja, richtig: Die halbe Stadt war wegen des Marathons gesperrt! Tja, vielleicht hätte das der Wahlleitung mal jemand sagen sollen, es sind ja nicht alle Menschen an Sport interessiert.

Wir schauen nochmal auf die Aussage, die Unterlagen seien teilweise „komplett in der Woche vor der Wahl an die Standorte der Wahllokale ausgeliefert“ worden – denn das verstößt gegen die Bundeswahlordnung. In § 49 (Abs.3) ist klar geregelt, wem „amtliche Stimmzettel in genügender Zahl“ (!) auszuhändigen sind: „dem Wahlvorsteher“.

Nirgendwo steht dort, dass sie bei Autohändlern, in Bibliotheken, Bildungsclubs, Beratungsstellen, Begegnungsstätten, Bürgertreffs, Cafés, Freizeitzentren, Freiwilligenagenturen, Gesellschaften, Genossenschaften, Jugendzentren, Kantinen, Kieztreffs, Kirchen, Kitas, Kleingartenanlagen, Kneipen, Kulturzentren, Museen, Nachbarschaftszentren, Reithallen, Restaurants, Schulen, Seniorenheimen, Sprachzentren, Sportbars, Stiftungshäusern, Stübchen, Theatern und Vereinen bereits Tage zuvor abgekippt werden können (überall hier konnte in Berlin gewählt werden). Da braucht es nicht viel Fantasie, um sich mögliche Manipulationen vorzustellen. Wer hatte überall Zugang zu den Zetteln? Wer garantiert, dass da nicht Wahlscheine verschwunden sind (es fehlten ja später viele) oder vorab ausgefüllt und in ebenfalls schon ausgelieferte Urnen geschummelt wurden?

Zum nächsten Punkt: Bestand nicht die Gefahr der Wahlverzerrung, weil „viele Wahllokale“ (O-Ton Wahlleitung) noch nach 18 Uhr geöffnet hatten, als bereit die ersten Prognosen veröffentlicht wurden? Ach was! Die Wahlleitung wiegelt ab: Die Verzerrung der Chancengleichheit wiege hier „nicht sehr schwer“, weil „die Prognosen ohnehin nicht sehr präzise (…) sind“. Aha. Aber etwas präziser als die Angaben „nicht sehr schwer“ und „viele Wahllokale“ waren die Prognosen schon. Der Checkpoint hat mal in den internen Unterlagen nachgeschaut, was „viele Wahllokale“ eigentlich bedeutet: Immerhin 19% der Berliner Wahllokale waren demnach noch nach 18:15 Uhr geöffnet – und das war schon die Zeit der ersten echten Hochrechnungen.

Die ZDF-Prognose von 18 Uhr war darüber hinaus sensationell nah dran am Ergebnis (wenn das für die Frage einer taktischen Abstimmung überhaupt von Bedeutung ist): Für die SPD wurden 26% vorhergesagt, sie landete bei 25,7%, die Union folgte mit 25% zu 24,1%. Auch bei Grünen (14,5/14,8), FDP (12/11,5) und AfD (10/10,3) veränderte sich nicht mehr viel.  

Richtig interessant und relevant ist der Blick auf die Linke: Deren Einzug in den Bundestag wackelte von der ersten Prognose an – und gelang am Ende nur über drei gewonnene Direktmandate. Eines davon errang Gesine Lötzsch in Lichtenberg mit einem Vorsprung von 8773 Stimmen (6,2 Prozentpunkte). Und damit kommen wir zu einer Runde „Mathe mit dem Checkpoint“: Zur Wahl 2017 wurden 93,3% der vom Amt versendeten Briefwahlunterlagen genutzt, 2021 aber nur 92,1% (zu den Zustellungsproblemen gleich mehr). In absoluten Zahlen bedeutet das bei 963.764 amtlich festgestellten „wirksam genutzten“ Briefwahlscheinen und der genannten Quote, dass 82.668 an konkrete Adressen versandte Stimmzettel nicht genutzt wurden – aus welchen Gründen auch immer.

Lichtenberg wiederum liegt bei der Briefwahlquote auf dem drittletzten Platz, war also von dem Phänomen überproportional hoch betroffen. Und mit Blick auf die absoluten Daten stellen wir fest: Die Zahl der möglicherweise „verlorenen“ Stimmen wegen nicht oder zu spät angekommener Wahlzettel liegt in Lichtenberg ebenso wie der Vorsprung von Lötzsch im hohen vierstelligen Bereich. Ohne den knappen Wahlsieg von Lötzsch aber hätte die Linke nicht in den Bundestag einziehen können – bei den Zweitstimmen kam die Partei nur auf 4,9 %, und für die Bildung einer Fraktion bei einem Scheitern an der 5-%-Hürde sind mindestens drei Direktmandate erforderlich. In absoluten Zahlen: Mit Lötzsch kommt die Linke auf 39 Abgeordnete, ohne sie hätte sie nur 2 (die beiden anderen Direktmandate).

Noch enger war es in Reinickendorf: Hier betrug der Vorsprung der Erstplatzierten nur 1788 Stimmen (bei mehr als 6000 „nicht wirksam genutzten“ Briefwahlscheinen) – und so muss auch Ex-Kulturstaatsministerin Monika Grütters hoffen, dass die Einsprüche wie der des Ex-Abgeordneten Marcel Luthe allesamt zurückgewiesen werden. Beim Bundestag ging in der vergangenen Woche schon mal dessen Erwiderung auf die Stellungnahme der Landeswahlleitung ein, vorgetragen von seinem Anwalt Marcel Templin – er bezeichnet die Erklärungen als „durchweg unsubstantiiert“. In einigen Passagen, schreibt Templin, „bestätigen ihre Ausführungen sogar den hier erhobenen Vorwurf erheblicher Fehler bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahl.“  

Und noch ein kurzer Blick auf die massiven Probleme mit der Zusendung der Briefwahlunterlagen (beauftragt wurden die Pin AG für die Zustellung in Berlin und die Deutsche Post AG für Sendungen außerhalb) – die Landeswahlleitung beschreibt das so: „Bedauerlicherweise scheinen alle ergriffenen Maßnahmen nicht vollumfänglich gewirkt zu haben, denn die Beschwerden dauerten bis zum Wahltag an.“ Und, soviel lässt sich jedenfalls sagen: noch weit darüber hinaus (Fortsetzung folgt).