Wochenende der kleinen Dinge
Samstagmorgen – Wer unter der Woche von einem Termin zum nächsten rast, hat wahrscheinlich keinen Blick für die kleinen Dinge übrig. Wie gut, dass Wochenende ist! Unter dem vermeintlich Nebensächlichen findet sich nämlich manchmal auch ganz Großes. Beispiel: eine Menükarte von 1927. Aufgetischt wurde Ochsenschwanzsuppe, Ostender Steinbutt mit Sauce Mousselline, Rehrücken mit Gemüse nach Jägerart, ein süßes „Omelette Surprise“ und Käsegebäck zum Abschluss. Diese Karte ist übrigens in der Liebermann Villa am Wannsee zu sehen. Excusez-moi, eine schnöde Menükarte? Es handelt sich dabei um die persönliche Menükarte von Martha Liebermann. Als Druckgrafik mit vier Lithografien von Maler Max Slevogt gestaltet, ist sie eigentlich eine Dankeskarte mit humoristischen Illustrationen der Gerichte anlässlich eines feierlichen Essens zum 80. Geburtstag von Martha Liebermanns Mann Max. Darauf handgeschriebene Widmungen vom Who-is-Who der Berliner Kunst- und Kulturszene, die seinerzeit bei den Liebermanns ein- und ausging, geben einen Einblick in die Atmosphäre kurz vor Wirtschaftskrise und Nazi-Terror. Anfang März 1943, nachdem sie vom Regime faktisch enteignet und ihrer nächsten Menschen beraubt war, entzog sich Martha Liebermann der Deportation ins KZ Theresienstadt durch Suizid.
Samstagmittag – Als das „Unbewusste Berlins“ bezeichnet Regisseur Stefan Nolte die Lausitz: Kaum jemand, der das Leuchten der Stadt vor Augen hat, denkt an die vernarbte Tagebau-Wüste im unweiten Osten. Dabei stecke die Lausitz „in jeder Pore dieser Stadt – von der Energie bis zur Bausubstanz“. Gemeinsam mit dem Theaterkollektiv Recherchepraxis, Schauspieler Heiner Bomhard und dem Chor der Statistik hat Nolte ein Landschaftstheater geschaffen, das auf die Beziehung der energiehungrigen Stadt zum geschundenen Land aufmerksam machen will – mit Musik von Bernadette La Hengst, Wolfsgeheul und einem eigens gebauten Schiff, das um 16 Uhr vor dem Mercedes-Platz, um 18 Uhr am Dom-Aquarée und um 19.30 Uhr vor dem Haus der Kulturen der Welt anlegt.
Samstagabend – Pandemiebedingt konnte das Jazzfest im letzten Jahr bekanntlich nur online stattfinden. Um das Beste aus dem digitalen Rahmen zu holen, wurde um es vom Standort Berlin losgelöst und als Jazzfest New York-Berlin umgesetzt, wobei zahlreiche Echtzeit-Übertragungen zwischen den beiden Städten ungewohnte Formen des musikalischen Zusammenspiels ermöglichten. Diesmal ist es wieder offline zu erleben. Da sich das Brückenschlagen zu weit entfernten Musikszenen aber bewährt hat, gibt es nun gleich drei bilaterale Programme parallel: Berlin-Kairo, Berlin-São Paulo und Berlin-Johannesburg. Programm und Tickets gibt's hier.
Sonntagmorgen – Menükarten – siehe oben – sind im Übrigen auch dann, wenn sie ganz schnöde daherkommen, Dokumente ihrer Zeit. Ochsenschwanzsuppe und Rehrücken etwa werden in den unzähligen Menüs auf der Veggieworld-Messe garantiert nicht zu finden sein. Wer sich für vegane Ernährung interessiert, Einblicke in Zukunftstrends und Produktions-Hintergründe erhalten oder sich einfach mal durch ein riesiges Angebot an feinen und mitunter kuriosen Speisen fräsen will: Von 10 bis 18 Uhr in der Luckenwalder Straße 4-6 (Gleisdreieck), Tickets kosten 12 Euro.
Sonntagmittag – Ein Dokument seiner Zeit ist auch der gerade in den Kinos angelaufene Dokumentarfilm der Berliner Regisseurin Yael Reuveny, „Kinder der Hoffnung“. Vor 40 Jahren in Israel geboren und aufgewachsen, beschreibt sie ihre Generation, die zwischen Zeiten „optimistischer Friedensverhandlungen“ und der Intifada aufwuchs, als eine, die mit der Hoffnung begann und mit dem Verlust derselben zu leben lernen musste. Reuveny reist zurück in ihre Heimat, um gleichaltrigen Freunden aus ihrer Kindheit und Jugend wiederzubegegnen und herauszufinden, was aus ihnen geworden ist. 15 Uhr im Kino Krokodil (Greifenhagener Straße 32), 16 Uhr im fsk-Kino (Oranienplatz).
Sonntagabend – Zum Schluss noch einmal zu den kleinen Dingen: Von Komponist:innen wird erwartet, große Werke zu schreiben, mit viel Pomp, Glanz und Glamour. Dabei sind es oft kurze Miniaturen, in denen bestimmte musikalische Ideen vorgestellt und erprobt werden, ohne umständlich auf Länge aufgeblasen werden zu müssen. US-Komponist Sidney Corbett hat mit seinen „Piano Valentines“ mehrere Notenbücher voller solcher Miniaturen geschrieben und heute um 19 Uhr lässt Pianistin Yoriko Ikeya mit ihnen das Wochenendeende ausklingen. Sirje Viise durchschreitet in einer Performance zudem singend den Konzertraum im Kunstraum Bethanien. Das Ganze findet im Rahmen der Klangwerkstatt Berlin statt, Tickets kosten 8 Euro.