Stadtleben
Samstagmorgen – Optimierer sind besonders besonnene Menschen, die nicht zu Spontankäufen neigen, sondern vor jeder Anschaffung ausgiebig das Beste, Effizienteste und Günstigste recherchieren. Sie kaufen zielgerichtet und beratungsresistent, reden vom „Preis-Leistungs-Verhältnis“ und zweifeln prinzipiell an der Kompetenz des Verkaufspersonals. Entsprechen recherchierte Produkte nicht ihren Erwartungen, zeigen sie sich schon mal verletzlich. Als Bibel dieser Subkultur darf man sicherlich die Publikationen der Stiftung Warentest nennen, die seit gut einem halben Jahrhundert Verbrauchern Orientierung jenseits von Werbeversprechen bieten. Vier Mal im Jahr ist zudem so etwas wie Bescherung, so auch heute: Um 10 Uhr versteigert die Stiftung aus den Tests der letzten Monate unbeschädigt gebliebene Produkte am Werdauer Weg 23 in Schöneberg.
Samstagmittag – Die aktuelle Ausgabe des Kontakte-Festivals an der AdK ist programmatisch mit dem Titel der namengebenden Komposition Karlheinz Stockhausens verbunden. „Kontakte“ ist nämlich eine der ersten, in denen Stockhausen seine Momentform erprobte: Er komponierte kurze, voneinander unabhängige musikalische Gesten und reihte sie intuitiv, also ohne Regel, aneinander. So kommen Kontakte zwischen disparaten Ideen zustande. In diesem Sinne will auch das Festival unzusammenhängende Felder von elektroakustischer Musik, Klangkunst und deren Akteure zusammenbringen. Ab 15 Uhr laufen Gespräche mit den Preisträgerinnen des Thomas-Seelig-Musikpreises Beatriz Ferreyra und Magdalena Długosz, von denen beim Konzert um 20 Uhr auch Uraufführungen zu hören sein werden. Das ganze Programm findet sich hier.
Samstagabend – Da wir beim Zusammenbringen von Gegensätzen: „Berlin bleibt!“ schreit es von zahlreichen plakatierten Wänden der Stadt allen entgegen, die kommen, um aufzuwerten, zu modernisieren und zu erneuern – und sich darüber wundern, dass das linke Berlin dermaßen konservativ auf seinem Status beharrt. Den sollte man sich aber auch vor Augen führen: Berlin ist noch erschwinglich, seine Bevölkerung für deutsche Verhältnisse hochgradig divers und reich an Reibungen. Und die erzeugt bekanntlich Wärme, Bewegung, kurz: stetigen Wandel. Und der wird von der Erneuerung bedroht, wenn sie mit Verdrängung und Verteuerung einhergeht. Für den heutigen Abend haben Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura eine Lesung „Mietsachen. Vermischtes aus der Welt der Immobilien“ in der Tradition des Dokumentartheaters produziert, deren Stoff mehr recherchiert als ausgedacht ist – und Kroesinger, der als Regisseur sonst Andere vortragen lässt, liest als begnadeter Erzähler selbst. 20 Uhr im HAU2, Hallesches Ufer 32. Und hier entlang zu weiteren Programmpunkten von „Berlin bleibt!“
Sonntagmorgen – Heute wählt Österreich vorgezogenermaßen den Nationalrat, der sich wegen der Ibiza-Affäre im Juni selbst aufgelöst hat. Im gemütlichen Felix Austria kann man sich auf die verkürzte Legislatur einen leiwanden Verlängerten gönnen und bei Bedarf Weißwurst zuzeln, über die neuen Vorwürfe gegen Strache nachsinnen und so den Tag innerlich reisend anstimmen, romantisch verklärt und ganz ohne die adäquate Empörung über die Situation – laut Tagesspiegel-Redakteurin Melanie Berger zeigen Exilösis in Berlin nämlich keinerlei protestierende Präsenz anlässlich der Wahl. Geh' bitte. Bergmannstraße 26
Sonntagmittag – …wo wir grad beim Träumen sind: Wie steht es um den Traum der autofreien Innenstadt? Heute ist nämlich Marathontag und die Fußhoheit zum Greifen nah (hier eine Übersicht aller Sperrungen). Der Mythos, auf dem der Lauf beruht, ist übrigens eine Ente der Geschichtsschreibung, der zufolge der Bote Pheidippides vor 2500 Jahren vom Schlachtfeld nach Athen lief, um die Kunde des Sieges über die Perser zu überbringen. Nach 40 Kilometern in voller Rüstung und gleißender Hitze soll er sich dermaßen verausgabt haben, dass er nach der Verkündung starb. Die Geschichte gilt als populistische Propaganda, wenngleich durchaus irgendein Bote vom Schlachtfeld nach Athen gelaufen sein dürfte, wie es damals üblich war. So ist der morgige Lauf ein anschauliches Beispiel für das Thomas-Theorem, demzufolge in seinen Konsequenzen real ist, was der Mensch für real hält. Die Botschaft des heutigen Laufes lautet übrigens…, hm, die offizielle Seite gibt nichts her. Sagen wir doch einfach, gemäß der Indizienlage, der „BMW-Berlin-Marathon“ setzt ein Zeichen für die autofreie Stadt (N.T.). Mal schauen, ob sich das Thomas-Theorem dann erneut bestätigt.
Sonntagabend – Wie „Berlin bleibt!“ und „Kontakte“ ist auch das BAM!-Festival bereits seit Tagen im Gange. Mit dem Blick ins Programm sollte man daher nicht bis Sonntagabend warten. Wer allerdings das Ende vom Wochenende sowieso nur unter körperlichen Qualen übersteht, darf sich hier etwas Empathie abholen. Denn mit dem Project Wildeman kommt ein niederländisches Männerquartett auf die Volksbühnenbühne, das für die Auslotung körperlicher Grenzen mit hohem Risiko, Verletzungsgefahr und Auslösung von Panik unter Spiegelneuronen bekannt ist. Es ist aber nicht alles bloß Spektakel, sonst würde hiermit nicht das Finale des Festivals beschlossen werden. Im Anschluss steigt im Grünen Salon die Abschlussfeier, bei der mit der ein oder anderen Überraschung zu rechnen sein sollte.