Stadtleben
Samstagmorgen – Gehören auch Sie zu denen, die schon jetzt, da nach der unerträglichen Hitze endlich schönes Wetter ist, die langen Tage unter freiem Himmel zu vermissen beginnen? Zum Glück ist auch dieses Wochenende noch einiges draußen los. In der Suarezstraße zum Beispiel steigt einmal mehr die beliebte Antikmeile, bei der 35 Antiquitätenfachgeschäfte und 100 Gasthändler (aus unzähligen Bewerbern verlesen, wie es heißt) Schönes, Exotisches und Seltenes aus verschiedenen Ländern, Epochen und Stilen feilbieten, von Biedermeier über Art Deco bis zu zeitgenössischem Upcycling. Streng genommen beginnt das Ganze zwar erst mittags um Punkt 12, aber einen ausgezeichneten Kaffee vorab kann man sich schon mal im Yaz Up gönnen, Neue Kantstraße 32. Liebevoll eingerichtet, kinderfreundlich und barrierefrei kann man sich hier nochmal den tatsächlichen Antiquitätenbedarf durch den Kopf gehen lassen, um Impulskäufe schon im Vorfeld einzudämmen. Ach was, eingedämmt gehört heute höchstens die Eindämmung selbst, es ist doch Wochenende!
Samstagmittag – Und genau zum höchsten Sonnenstand kommt auch der höchste Berg der Hauptstadt zu sich – Teufelsberg heißt er aber nicht. Ausnahmsweise handelt es sich heute um einen Vulkan in den Ahrensfelder Bergen, dessen Spitze alle Berge der Stadt vorübergehend überragen soll. Bis zum Ausbruch zumindest. So feiert der Bezirk Marzahn-Hellersdorf seinen 40 Jahre währenden Aufstieg (oder so). Alles Wesentliche dazu hat Caspar Schwietering für den Leute-Newsletter aufgeschrieben. Kultursenator Klaus Lederer wird dort übrigens eher nicht zugegen sein, der hat nämlich schon den Bornholmer Kleingärtnern zugesagt, ab 11 Uhr für eine Diskussion zur Zukunft von Kleingärten in der Hauptstadt zur Verfügung zu stehen. Das Programm reicht von politischer Debatte bis Hula Hoop, ist engagiert, verspricht aber mehr Bodennähe als das Marzahner.
Samstagabend – Nochmal zurück zu schwindelerregenden Höhen: Anna Netrebko gibt heute Abend die Lecouvreur konzertant in der Deutschen Oper und noch gibt es Restkarten. Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Hier noch Überzeugungsarbeit zu leisten, würde nämlich höchstens das Gedränge an der Abendkasse erhöhen und die Schwarzmarktpreise der Tickets in astronomische Höhen treiben – auf offiziellem Vertriebsweg liegen die aktuell zwischen 180 und 240 Euro. Mehr geht aber immer, sowieso. Apropos: Im Neuköllner Sowieso, dessen bloße Existenz so weit abseits allen Mainstreams (nämlich in der Weisestraße 24) mich jedesmal mit der Welt versöhnlich stimmt, wenn ich daran vorbei laufe, ist die Musik weit weniger vorhersehbar. Meistens improvisiert, kann sie Spuren von Jazz über [denken Sie sich was aus] zu experimenteller ad-hoc-Geräusch-Komposition enthalten. So auch heute beim Quintett um Bishop, Dyberg, Müller, Wiik und Fischerlehner. Derselbe Geist bestimmt übrigens auch den Eintrittspreis, der in der Regel irgendwo in der Region 8 bis 15 Euro liegt.
Sonntagmorgen – Kommenden Mittwoch startet das Internationale Literaturfestival Berlin. Einen dramatischen Auftakt macht es schon heute: Interessierte Privatpersonen und Institutionen sind nämlich aufgerufen, Prosatexte oder Gedichte an Orten ihrer Wahl im öffentlichen Raum laut zu lesen. Im Gegenzug bekommen sie dafür Tageskarten für das Festival. Es könnte also hochdramatisch zugehen in der Stadt heute. Obwohl… wer weiß, ob die Vortragenden bei der allgemeinen Abstumpfung gegenüber vermeintlichen Selbstgesprächen, die mit der Headset-Telefonie einhergeht, überhaupt noch auffallen. Wenn Sie also heute Menschen begegnen, von denen Sie annehmen, sie würden telefonieren, horchen Sie doch etwas genauer hin, es könnte sich um ein literarisches Happening handeln. Wem das Lust macht, die Stadt detektivisch nach solchen Lesungen zu erkunden, beachte bei der Gelegenheit doch auch das Programm zum Tag des offenen Denkmals. Das verspricht, im Gegengsatz zur Suche nach den Stand-Up-Lesungen, eine sehr hohe Trefferquote. Die Liste der Stätten, die aus diesem Anlass heute und morgen mit besonderem Programm aufwarten, umfasst ganze 80 Druckseiten.
Sonntagmittag – Detektivische Ambitionen kann man zudem auch im Ausland ausleben. Nein, nicht was Sie jetzt denken. Gemeint ist natürlich die Prenzlberger Experimentalmusik-Institution in der Lychener Straße 60. In seiner Installation „Traces – Of“ hat hier der Künstler und Musiker Stefan Roigk ein Stück Musik versteckt, genauer: Indizien verstreut, Spuren, Andeutungen und Zeugenaussagen zusamengetragen. Und von 15 bis 18 Uhr ist Finissage mit Kaffekränzchen, was den Austausch von Verdachtsmomenten und Tathergangstheorien fördern sollte. Viele Ohren hören schließlich mehr als weniger.
Sonntagabend ist die beste Zeit für einen letzten Spaziergang zum Wochenende-Ende, zumal der immer früher einsetzende Sonnenuntergang auch Gutes hat. Es wird nämlich früher dunkel und das kommt einem alten Avantgardeprojekt entgegen: der Errichtung der elektrischen Nacht. Nur im Dunkeln lässt sich die Stadt nämlich vernünftig mit Kunstlicht in Szene setzen. Und eben das geschieht im Rahmen des Mural Festivals, bei dem eine Auswahl der größten Wandmalereien Berlins lichtgeflutet erstrahlt, während um sie herum die Nacht fällt – der Kontrast fördert den Fokus aufs Wesentliche, ebenfalls eine avantgardistische Geste. Durch den Nachtspaziergang soll eine spezielle App führen, die neben Standorten auch Hintergrundinfos zu den Wandbildern liefert. Wer die scheut, kann sich alternativ auch von einer rudimentären Karte führen lassen, beides kostenfrei über die Homepage zu beziehen. Wer beim Stöbern auf der Seite übrigens über Sexismen oder Militärmetaphorik stolpert, muss sich nicht abschrecken lassen. Die Wandbilder, um die es im Wesentlichen geht, haben mit dieser Rhetorik wenig zu tun.