Im Kerzenwahn durchdrehen, im Shoppingrausch distanzieren und die passende Therapie
Samstagmorgen – Wer der diesjährigen Adventszeit einen eigenen Dreh verpassen möchte, dreht Kerzen. Wobei – ganz eigen ist der Dreh nun auch nicht, dafür schwer im Trend liegend, denn im Netz machen Bastelanleitungen in allen Sprachen und Formaten seit geraumer Zeit die Runde. Wer einen großen Bogen um das nicht wirklich klimaneutrale, da aus Erdöl gewonnene Paraffin machen möchte, greift zu Bio-Bienen- oder, der veganen Variante, Bio-Sojawachs. Bienenwachs hat den Vorteil, dass es sich schon bei Raumtemperatur von Hand formen lässt und ein angenehmes Raumklima schafft, Sojawachs verbrennt vollkommen rußfrei und CO2-neutral. Anleitungen und Inspiration gibt es zum Beispiel hier, hier, hier, hier und hier. Stylische Feuerlöscher hier.
Samstagmittag – Wie als eine Art Richtigstellung zu den schwer hinkenden Selbstvergleichen mancher mit manchen, hat die Volksbühne ein Gespräch zwischen Shelly Kupferberg und dem Sophie-Scholl-Biografen Robert Zoske aufgezeichnet. Die knappe Stunde ist ein guter Einstieg und Vorgeschmack auf die gerade erschienene Biografie „Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen“ (448 Seiten, 24 Euro) und mit die beste Impfung gegen die Verunglimpfung der Geschichte.
Samstagabend – Der Nachteil normaler Festivals, wie zum Beispiel des Next Festivals aus Bratislava, besteht in ihrer örtlichen Begrenztheit. Man hätte unter normalen Bedingungen zur Teilnahme nicht nur nach Bratislava reisen müssen. Das Festival hätte es, auf Bratislava begrenzt, auch nur schwer in diese Zeilen geschafft. Dieses Jahr wird hier endlich mal ein echter Vorteil des digitalen Raums ausgeschöpft: Bei der diesjährigen Ausgabe kommt die Musik als Stream aus Bratislava, dem für seine Improvisationsszene legendären Cafe Oto in London, dem UH Fest in Budapest und der VUNU Gallery in Košice – und wir empfangen alles in Berlin. Monika Šubrtová & An Trinse, sowie im Anschluss Daniel Blumberg performen heute ab 20 Uhr im Londoner Oto, am morgigen Sonntag endet das Festival mit unter anderem Dorian Concept und Mark Fell.
Sonntagmorgen empfiehlt sich der Spaziergang durch die leeren Straßen von Mitte, wo ausnahmsweise einmal keine vom Shoppingrausch befeuerte Hektik entstehen kann, weil alle Geschäfte geschlossen haben… wirklich alle? Der Distanz Kunstbuchverlag (so heißt der nicht erst seit Corona) nutzt die Gunst der gähnenden Stunde um ausgewählte Sondereditionen und leicht lädierte, womöglich anderweitig vergriffene Kunstbuch-Exemplare zu reduzierten Preisen feil zu bieten – und ganz falsch ist das nicht, so kurz vor der großen Shopping…, äh, Schenkenszeit. 10-17 Uhr in der Torstraße 74. Natürlich wird nur eine Begrenzte Zahl Besucher:innen gleichzeitig in die Räume gelassen.
Sonntagmittag – Apropos Schenken: Einschenken. Eine Lücke in der Lockdown-Gesetzgebung füllen viele Gastronomen mit Glühwein. Naturgemäß bilden sich dabei, zur Freude des Virus, lokale Anhäufungen und Agglomerationen mit Pappbechern. Entzerren ließe sich das dabei ganz einfach mit einer Glühweintour. Bei der Neuköllner Ausgabe verteilen sich die Glühweinaffinen auf die Zwischenräume zwischen den Lokalen Drei Flaschen Bar (Böhmische Str. 48), Herr Lindemann (Richardplatz 16), Tier (Weserstraße 42), Nathanja & Heinrich (Weichselstraße 44), Butter & Korn (Pannierstraße 57), Geist im Glas (Lenaustraße 27) sowie die nähere Umgebung, verkauft wird ausschließlich nach der Devise „Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen!“. Damit das mit dem Weitergehen auch wirklich klappt, wird man hier und da zur Stärkung noch erlesendst verköstigt. Tipp: Eigenen Mehrwegbecher mitnehmen, es liegen schon genügend davon in der Gegend rum.
Sonntagabend – Für den vielgelobten Filmemacher Malte Schlösser könnte die Glühweintour dabei geradezu therapeutische Züge annehmen. „Es fällt mir immer so schwer, Orte zu verlassen, an denen ich noch nie war,“ heißt nämlich sein neuester Film, dessen Premiere wegen Corona nun schon mehrfach verschoben wurde. Statt den Spannungsbogen für das geneigte Publikum bis zur Unerträglichkeit zu verlängern, ist der Streifen jetzt online verfügbar. Apropos Unerträglichkeit: es geht um Verletztheit, psychischen Schmerz und die gesellschaftliche Akzeptanz von Einsamkeit, Angst und Panik – näher am Zeitgeist geht kaum. Der Stream startet live um 20 Uhr, der Zugangscode kommt mit einem Ticket zu 5,50 Euro.