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Linke bangt um Direktmandate im Berliner OstenBerlins CDU schöpft Hoffnung nach Niedersachsen-WahlBerlins Bürgerämter weiterhin unerreichbar

wer die Qual hat, steht zur Wahl. Auf den letzten Metern vor den entscheidenden Abstimmungen für den Bundestag, das Berliner Parlament und alle Bezirke (Berlin-o-Mat hier) begegnen einem immer mehr müde Gesichter auf der Straße, die mit Kaffeebechern und Flyern in ihren Händen nimmermüde um unsere Stimmen kämpfen. Doch gegen den landesweiten Trend kommen die lokalen Lokalpolitiker oft kaum an. Dabei kommt es womöglich für das große Ganze auf nur ein paar kleine Wahlkreise an. Und zwar gerade in Berlin.

Da die SPD mit Bedächtigkeitskönig Olaf Scholz derzeit die Beliebtheit anführt und CDU-Nervositätskaiser Armin Laschet nach dem schlecht moderierten Triell nicht aus der eigenen Patsche herausfindet, könnte womöglich sogar noch Rot-Grün zur überraschenden Regierungsoption im Bund werden. Dies hängt vor allem von der Linken ab, die bundespolitisch nicht recht in Tritt kommt und sich in den Umfragen von oben kommend der Fünf-Prozent-Hürde nähert. Die letzte Rettung könnte dann im direkten Gewinn von drei Wahlkreisen liegen, um im Bundestag vertreten zu bleiben. Bisher gab es diese Rettung immer im Berliner Osten – in dem die linken Hochburgen allerdings schon länger nicht mehr mit links zu gewinnen sind (Reportage hier).

Laut Wahlkreisprognose.de gibt es bisher nur in zwei Berliner Wahlkreisen einen knappen, aber noch signifikanten Vorsprung für die Partei: Lichtenberg (mit Kandidatin Gesine Lötzsch) und Treptow-Köpenick (mit Gregor Gysi) gehen laut diesem Analyseportal „eher unsicher für die Linke“ aus. In Marzahn-Hellersdorf (mit Petra Pau) wie auch im südlichen Leipzig sind die Wahlkreise demnach „Too-close-to-call für die Linke“. Beim Portal election.de sieht es etwas besser aus. Alles ist noch drin – oder am Ende auch nichts.

Die Bundestagswahl könnte also wieder im Osten entscheiden werden – durch ein kleines, bisher kaum beachtetes Detail, das schon öfter an der Waage züngelte. Vor zwei Jahrzehnten rang der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im noch nicht durchsanierten Prenzlauer Berg für die SPD mit der Linken immer wieder um wenige Stimmen. „Mal habe ich knapp gewonnen, mal knapp verloren“, erinnert sich Thierse am Checkpoint-Telefon. „Ich kannte in meinem Wahlkreis jede Mülltonne, aber gegen den Bundestrend kam ich manchmal nicht an.“ Thierse jedenfalls fühlt sich an die Wahlkämpfe der Vor-Merkel-Zeit erinnert, als die CDU schon damals die roten Socken auf die Wäscheleine hängte (und damit noch Erfolg hatte). „Die Wählerinnen und Wähler müssen sich überlegen, ob sie durch die Wahl der Linken eine rot-grüne Regierung behindern oder nicht“, findet Thierse. Der 77 Jahre Politrentner macht noch Wahlkampf für die Kiezhausen-Kandidaten von heute. „Auch ein alter Herr kann was für die Demokratie tun.“ Denn die darf niemals müde werden.

Ein spannendes Schlaglicht im Schlussspurt der Schlagabtausche kommt aus Niedersachsen. Hier gewann die CDU trotz Verlusten die Wahl zumindest kommunal, was Berlins CDU-Spitzenmann Kai Wegner unverhofft hoffen lässt. „Wahlergebnisse können anders sein als Umfrageergebnisse“, sagt der in Umfragen ebenfalls nicht führende Wegner auf Checkpoint-Nachfrage und beschwört das Verhindern des von der CDU beschworenen Linksrutsches durch die CDU. „Als Berliner wissen wir, was eine rot-rot-grüne Regierung bedeutet.“ In der Landeshauptstadt Hannover zeigte derweil Belit Onay, was in der Hauptstadt des ganzen Landes nach letzten Umfragen womöglich nicht mehr klappt: ein Rathaus grün einzufärben. Unsere nach Hannover entsandte Checkpoint-Korrespondentin Sonja Wurtscheid sprach mit dem siegreichen 38-Jährigen über Parallelen zu Berlin, der aber zog dann das Interview wieder zurück. So bleibt Berlins Grünen-Spitzenfrau Bettina Jarasch als Ratschlag im Schlussspurt wohl nur noch Wegners Hoffnung: Wahlergebnisse können anders sein als Umfrageergebnisse.

Wenn Dinge etwas über Menschen erzählen können, dann sind es die Dinge, die Menschen wegwerfen. Laura Schilling sammelt morgens den Müll auf, den andere Leute nachts am Boxhagener Platz fallen, stehen und liegen lassen: ausgetrunkene Flaschen, ausgedrückte Zigaretten, ausgezogene Klamotten. 2500 Beschäftigte der Straßenreinigung sind täglich unterwegs, pro Jahr kehren sie 48.000 Tonnen Kehricht zusammen. Laura Schillings Tag beginnt morgens um halb vier – da schmiert sie Brote für ihre beiden Kinder, bevor um fünf Uhr die Schicht startet. Das frühe Aufstehen findet die gelernte Zootierpflegerin gut, um nachmittags Zeit für ihre Familie zu haben (Porträt hier). Zwischendrin sammelt die 34-Jährige mitten in der Stadt endlos viele Kronkorken ein. „Klar, anderswo ist es sauberer als in Berlin“, sagt Schilling. „Aber auch nicht so bunt.“ So wie es die Menschen eben gerne treiben, wenn sie sich fallen lassen. Und nachts alles zum Wegwerfen finden. Sich selbst am meisten.

Vom Unrat der Stadt ist es nicht weit zur Untat der Stadt: Berlins in jeder Hinsicht unerreichbare Bürgerämter. Bisher haben nur zwei von zwölf Bezirken die Öffnungszeiten wie vereinbart erhöht, wurde gestern im Digitalausschuss des Abgeordnetenhauses bekannt. Wer umzieht und seine Wohnung ummelden muss, kann das aktuell berlinweit nicht innerhalb der nächsten acht Wochen tun – gesetzlich vorgesehen sind eigentlich zwei Wochen. Die Abgeordneten zeigten laut unserem Reporter Robert Kiesel „pure Resignation“, die nur der scheidende SPD-Politiker Sven Kohlmeier aufzuheitern vermochte. Sein Bonmot zum Abschied: „Politiker streiten. Dann schließen sie Kompromisse. Und danach streiten sie über die Kompromisse.“ Das zumindest ist unbestreitbar.

Der Preis ist Eis – nicht nur in Berlin, wo kurz vor dem Sommerschlussverkauf mehrere Eisdielen ausgeraubt worden sind. Auch in Wuppertal haben sie einen an der Waffel: Hier prügelten am Wochenende vor dem Zoo sechs Eisverkäufer mit Eisenstangen und Ketten aufeinander ein – wahrscheinlich, um sich den besten Stellplatz fürs Die-Kugel-Geben zu sichern (via WDR). Die Polizei griff eiskalt zu und nahm fünf der Täter zur Abkühlung der Gemüter fest. Der sechste Mann ist abgetaucht. Vielleicht ja bei den Eisbären.

Telegramm

Jetzt kommt schwere Kost: Marcus Schläfke aus Templin hat die dickste jemals in Deutschland gewachsene Zucchini geerntet. Sie wiegt 56,75 Kilo. „Ich habe nichts Besonderes mit dem Gemüse gemacht“, erzählt der 31-jährige Hobbygärtner. Leicht in die Pfanne hauen lässt sich sein grüner Koloss allerdings nicht.

Sie sind klein, frech und neugierig – und damit tolle Vorbilder für Kinder. Die Digedags, als Vorgänger der Abrafaxe weltgewandte Comichelden der DDR, haben nun einen eigenen Platz in Karlshorst. Ein schönes Mosaik-Steinchen der Erinnerung.

Tief im Westen verstaubt nicht nur die Sonne. Der Funkturm könnte im November wieder öffnen – für Adventsfeiern im höchsten Restaurant der Messe. Westalgikern wäre es eine Messe.

Silbern glänzte die neue Zeit, als Christo den Reichstag verhüllte und das vereinte Berlin sich erstmals als Stadt von Welt erlebte und als Hauptstadt der Berliner Republik entdeckte. Nun wird der Triumphbogen in Paris glitzernd verhüllt, um dem verstorbenen Christo zu gedenken. Und noch einmal an die magischen Tage und Nächte zu denken, in denen Berlin verliebt war. In Berlin.

Verschwörung gegen den Verschwörer: Ein Vertrauter des Antisemiten Attila Hildmann hat der Hackergruppe „Anonymous“ brisante Daten zugespielt, woraufhin diese Hildmanns Kanäle kaperte. Nun will „Anonymous“ Hinweise darauf haben, dass der Haftbefehl gegen Hildmann tatsächlich aus der Berliner Justiz durchgestochen worden sein soll – wodurch dem Verschwörungs-Extremisten vor seiner Festnahme die Flucht aus seinem Haus in Wandlitz in die Türkei gelang. Dort muss der einstige Veganer-Koch nun allein die Suppe auslöffeln, die er dem Land mit seiner Hetze einbrocken wollte.

Berlin bleibt in der Pandemie impfindlich. Aber wie lassen sich noch mehr Menschen von der vor schweren Corona-Verläufen schützenden Spritze überzeugen? Vielleicht durch mehr Freiheiten für Geimpfte und Genesene etwa bei Konzerten oder im Kino – darüber will heute der Senat befinden. Checkpoint-Leserin Jutte Büsch wünscht sich außerdem spritzenmäßige Fernsehreklame, Dana Henning schlägt Impfbusse vor den Testzentren vor. Mit dem Werbespruch: „Jetzt impfen, nie mehr für Tests anstehen.“ Könnte man mal testen.

Auch spannend: Nach einer neuen Umfrage wollen mehr als zwei Drittel der Menschen nach der Pandemie weiter im Homeoffice arbeiten (via dpa), ein gutes Viertel will gar nicht mehr ins Büro zurück. Präsenz wird Präteritum.

Auf gutem Wege ist man in Reinickendorf. Hier sind 153 von 156 Wahllokalen barrierefrei zu erreichen, wie eine Anfrage des CDU-Abgeordneten Stephan Lenz ergab. Im Bürgeramt Köpenick stehen derweil einer Wahl vorab drei Stockwerke im Wege, berichtet unsere Leserin Bettina Land: „Ich hatte meine Tochter, die im Rollstuhl sitzt, dabei. Leider war der Fahrstuhl defekt.“ Berlin bleibt oft bei sich selbst stecken.

Da haben wir den Salat: 38 Prozent teurer sind die grünen Blätter in diesem Sommer, die Lebensmittelpreise steigen weiter inflationär. Wird Zeit, dass auch die grünen Scheine mal nachwachsen.

Zitat

„Ich fühle mich fremd im eigenen Kiez. Dieses ganze Getue und Eingekaufe ist nicht meine Welt.“

Leierkastenmann Jörg Frey hat mir im Interview verraten, was Alt-Berliner Musik ausmacht – und den neuen Prenzlauer Berg.

 

Tweet des Tages

Ich eröffne ein Lokal mit undurchsichtigen Öffnungszeiten, in dem es Burger gibt, man an Schreibtischen sitzt und sein Essen nur bekommt, wenn man 3 Formulare ausgefüllt und an die Küche gefaxt hat. Ich nenne es Burgerbüro.

@wortgestalten

Stadtleben

Essen und Trinken  Bei Peter Schlemihl passt der Deckel auf den Topf: Das Wirtshaus greift die gleichnamige Geschichte Adelbert von Chamissos auf und liegt passenderweise sogar am Chamissoplatz. Thematisch zwischen Tradition und Moderne führt die kleine Speisekarte des Lokals am Fuße des hippen Kreuzbergs deftige Klassiker wie Spätzle, Rollbraten oder Labskaus und lässt Exilbayern oder Freunde der süddeutschen Küche zwischen Gründerzeithäusern und Grünflächen Platz nehmen. An Guadn! Mo-So 17-23 Uhr, Willibald-Alexis-Straße 25, U-Bhf Platz der Luftbrücke

Dem Verbrechen auf der Spur: Das ganze Stadtleben gibt's mit dem Tagesspiegel-Plus-Abo.

Berliner Gesellschaft

Geburtstag – Michael Angrick (69), „Unruheständler und Lebenskünstler; Zeit für neue Experimente und gute Zeiten wünscht Klaus" / Uli Becker, Pseudonym: Erwin Kliffert (68), Schriftsteller / Manfred Butzmann (79), Grafiker / Martina Gedeck (60), Schauspielerin / Christian Petzold (61), Filmregisseur und Autor / Sebastian Pflugbeil (74), Physiker und Bürgerrechtler / Sven Rissmann (43), für die CDU im AGH / Andreas Schmidt (48), ehem. Fußballspieler / „Herzliche Geburtstagsgrüsse an die spontane Tausendsasserin Christine von Elke und vielen Freundinnen“ / „Einst bester Kollege. Nun bester Freund. Immer clever, chic und charmant. Alles Gute zum Geburtstag, lieber Bjoern Wilck!“

+++ Sie möchten der besten Mutter, dem tollsten Kiez-Nachbarn, dem runden Jubilar, der Lieblingskollegin oder neugeborenen Nachwuchsberlinern im Checkpoint zum Geburtstag gratulieren? Schicken Sie einfach eine Mail an checkpoint@tagesspiegel.de.+++

Gestorben Ingar Brüggemann, * 3. Oktober 1933 / Dr. Gabriele Freude, verstorben am 24. August 2021, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin / Hans-Henning Krönert, * 5. September 1953 / Wolfgang Urban, * 24. April 1937

Stolperstein Heinz Rosenthal wurde am 16. Oktober 1903 in Berlin geboren. Am 11. September 1943 wurde er in seiner Heimatstadt verhaftet und ist drei Tage später – heute vor 78 Jahren – an den Folgen von Haft und Folter im Gestapo-Gefängnis gestorben. In der Wichertstraße 38 in Prenzlauer Berg liegt zu seinem Gedenken ein Stolperstein.

Encore

So, zum Schluss gucken wir mal auf den Schluss der Wahllisten. Bei der Berliner SPD steht hier zum Beispiel Jan Lehmann aus Marzahn-Hellersdorf, der sich auf Checkpoint-Nachfrage wünscht, dass „Berlin wegkommt von der City-Klientel-Politik“. In fünf Jahren will Lehmann jedenfalls alle Bahnhöfe in seinem Bezirk barrierefrei sehen. „Und ich möchte dann mit der VBB-Monatskarte mit der Seilbahn zum Freibad am Kienberg schweben.“ Bis dahin müssten allerdings die September noch wärmer werden als sowieso schon. Ach ja, und ein Freibad bräuchte es hier noch.

Abgetaucht in die Nacht bin ich gemeinsam mit Matthieu Praun (Recherche), Sophie Rosenfeld (Stadtleben) und Cristina Marina (Produktion). Morgen erfrischt Sie hier Stefan Jacobs. Ich grüße Sie!

Ihr Robert Ide

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