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Senat will strenge Kontaktregeln und Maskenpflicht auf belebten PlätzenChebli schiebt Müller aufs AbstellgleisMopsfledermaus könnte bedrohte „Kolonie10“ retten

elf Freunde müsst ihr sein, wenn ihr Siege erringen wollt. Eine uralte – natürlich falsche – Fußballweisheit. Elf Bars brauchte es, das stimmt, um die Berliner Sperrstunde zu kippen. Nicht verhältnismäßig, urteilte das Verwaltungsgericht Berlin am Freitag. Aber ob das ein Sieg ist? Die Barbetreiber mögen erfolgstrunken sein, freuen sich über „eine Stunde mehr Umsatz“. Bloß gibt es wenig zu gewinnen. Der Bescheid des Verwaltungsgerichts gilt nicht allgemein, sondern nur für die elf gallischen Dörfchen. Ab 23 Uhr fehlt aber auch ihnen weiter der Zaubertrank: Das Alkoholverbot bleibt. Die Ordnungsämter werden ab jetzt Wässerchen von Wasser unterscheiden müssen. Aber wer seine sechs, sieben allerletzten Bier um 22.59 Uhr bestellt, hält vielleicht trotzdem bis Sonnenauf- und wieder -untergang durch. Das ist eher nicht im Sinne des Infektionsschutzes, aber mutmaßlich erlaubt. Der Senat hat jedenfalls Widerspruch gegen den Bescheid eingelegt.

Während die einen über das Durcheinander schimpfen, den übergriffigen Staat, die planlosen Politiker, können wir uns immerhin darüber freuen, dass der Rechtsstaat funktioniert. Und dem Einzelnen jetzt noch mehr Verantwortung aufträgt. Vielen ist die Lust aufs große Tresentrinken ja ohnehin längst vergangen. Auf dem RAW-Gelände zogen am Freitagabend vor dem „Weißen Hasen“ nur ein paar Kids ihre Nasen – sonst Ruhe. An der Simon-Dach-Straße wurde pünktlich um 23 Uhr zugesperrt. Die Zahlen lehren es: 2975 Menschen wurden in den vergangenen Tagen positiv auf das Coronavirus getestet. Allein am Dienstag wurden 706 neue Fälle gemeldet – mehr als doppelt so viele Neu-Infektionen an einem Tag wie am 26. März (292), dem Datum mit den meisten positiven Tests der Lockdown-Phase. Kanzleramtsminister Helge Braun sprach am Freitag vom „Beginn einer wirklich großen zweiten Welle“ (Alle Entwicklungen hier). Die Berliner Sieben-Tages-Inzidenz steigt auf 81,6. Vielleicht probieren wir es daher mit gesundem Menschenverstand, dem guten Gefühl – auch ohne verordnete Sperrstunde. Abstand halten, Maske auf, Hände waschen. Und Wegbier, Fußpils, Heim-Hasseröder und Zuhause-Zwickl sollen ja auch ganz gut schmecken.
 

Auch für das Berliner Umland waren – pünktlich zum Wochenende – die Gerichte aktiv: Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat das Beherbergungsverbot in Brandenburg für Gäste aus Corona-Hotspots vorläufig außer Vollzug gesetzt. Und zwar komplett und nicht nur für die zwei klagenden Hoteliers. Auch hier: wegen Unverhältnismäßigkeit. Warum im Nachbarbundesland gleich die komplette Regelung kippt? Unser Brandenburg-Experte Alexander Fröhlich erklärt: Weil dort auch Normenkontrollklagen gegen Verordnungen erhoben werden können, sind einstweilige Anordnungen gegen den Vollzug einer Verordnung (hier: Beherbergungsverbot) möglich. In Berlin geht das nicht, weshalb das Verwaltungsgericht immer zuerst entscheidet, inwiefern eine Verordnung im konkreten Rechtsverhältnis Kläger vs. Land Berlin bestehen kann. Deshalb dürfen nun elf Bars öffnen. In dieser Checkpointnacht dürften deshalb dutzende Anwälte rasch weitere Eilverfahren aufs Papier bringen. Das Verwaltungsgericht arbeitet auch samstags. Alle anderen können das Wochenende nun doch in der menschenleeren Mark verbringen und dürfen sich sogar willkommen fühlen. „Wir wünschen allen, die gebucht und bis heute abgewartet haben, viel Freude bei der Reise!, twitterte der Geschäftsführer des Tourismus-Marketings Brandenburg, Dieter Hütte. „Brandenburg bietet Raum für Erholung mit Abstand und frischer Luft! Es kann so...

Der Berliner Senat mag – trotz juristischer Niederlage – nicht weiter zuschauen, wie die Zahlen in unkontrollierbare Höhen schießen. Dem Checkpoint liegt exklusiv der vorabgestimmte Entwurf der aktualisierten Infektionsschutzverordnung vor (EndVO-SARS-COV-2-InfSchV). Darin: eine deutliche Verschärfung der Kontaktbeschränkungen und eine Maskenpflicht auf Märkten und anderen belebten Plätzen. Ab nächster Woche dürfen sich laut des Papiers (Bearbeitungsstand: „Final“) maximal fünf Personen gemeinsam im öffentlichen Raum aufhalten – oder mehrere Angehörige zweier Haushalte. Bislang galt diese Regel nur für die Zeit zwischen 23 Uhr und sechs Uhr morgens. Neben den Märkten will die Innenverwaltung bestimmte belebte Straßen und Plätze definieren, an denen Masken „aus Gründen des Infektionsschutzes zwingend erforderlich“ sind. Vorbild dürfte Hamburg sein (das sieht dann so aus). Bei Demonstrationen soll ebenfalls eine Maskenpflicht gelten – eine Ausnahme besteht für Autokorsos und stille Proteste unter 100 Teilnehmern. Weiterhin möglich sind: Veranstaltungen in geschlossenen Räumen mit bis zu 1000 Personen, draußen mit bis zu 5000 Personen. Hertha und Union wird’s freuen. Private Veranstaltungen sind – laut Entwurf – noch immer mit bis zu 50 Personen im Freien und bis zu zehn Personen in Räumen gestattet. In diesem Punkt bleibt die nachgeschärfte Verordnung hinter dem Beschluss von Bund und Ländern von Mittwoch zurück (10 draußen/10 drinnen). Selbst die Kanzlerin hielt den für zu zaghaft.

Schon ab heute gilt eine andere – drastische – Regel in Berlin: Der neuen Besuchsregelung des Senats für Krankenhäuser zufolge, dürfen Kinder nur noch an einer Stunde pro Tag von einer Person Besuch bekommen – wie alle anderen Patienten auch. Ausnahmen werden nur für Schwerstkranke und Säuglinge gemacht. Die 5000 Jungs und Mädels aus dem Union-Stadion – verschwitzt, verbrüdert, verschwestert – dürfen nach dem Spiel also nicht im DRK-Klinikum Köpenick auf der Kinderstation einreiten. Vielleicht besser so. Genauso verboten sind aber längere Elternbesuche. Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster findet das alarmierend: „Jeder Krankenhaus-Aufenthalt ist für Kinder eine schwere Krise, da müssen sie sicher sein können: Meine Eltern sind bei mir.“ Ein 23-Stunden-Tag ohne jede Bezugsperson? Für Renz-Polster: Unmöglich. Charité und Vivantes erklärten auf Anfrage meiner Kollegin Constanze Nauhaus, sie würden deshalb trotz der Senatsregel auch weiterhin Ausnahmen für Kinder machen. Und was sagt die zuständige Gesundheitsverwaltung (auf mehrfache Anfrage)? „Die Regelung gilt für alle Patientinnen und Patienten. Ausnahmen sind in der Pressemitteilung aufgeführt.“ Warme Worte.
 

Fledermäuse genießen nicht den allerbesten Ruf. Das hat viele – jaja, auch aktuelle – Gründe. Die Mopsfledermaus allerdings macht sich gerade beliebt: In Wedding kämpft die „Kolonie10“ seit Jahren gegen ihre Verdrängung. Der schmucke Remisenhof war lange Zeit Refugium für 40 Bewohner, Gewerbetreibende, Künstler. Wie die Berlin-Erzählung weitergeht, ist ja bekannt: Ein Investor kaufte das Gelände, die Menschen mussten nach und nach gehen, jetzt sollen Mikro-Appartments gebaut werden. Da flattert die seltene Mopsfledermaus zu Hilfe: Ein von den Bewohnern beauftragtes „artenschutzrechtliches Fachgutachten“, das dem Checkpoint exklusiv vorliegt, kam zu dem Ergebnis, dass das in Berlin eigentlich schon verschwundene Tier in der Gegend beheimatet sein muss. „Barbastella barbastellus ist nicht nur Fledermaus der Jahre 2020/2021, sie gilt auch als streng zu schützende Art, für deren Erhalt Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen. Kann der Remisenhof ein solches sein? 14 weitere besonders geschützte Vogelarten hatten frühere Gutachten schon festgestellt. Die Natur könnte die Stadt hier vor dem Ausverkauf retten. Darüber muss laut des Vereins „Kulturhof Koloniestraße10“ jetzt die Umweltverwaltung entscheiden. Das Gutachten wurde gefaxt. Mopsfledermaus. Hihi.

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