Soziologe Mau: Auch in 100 Jahren gibt es keine innere Einheit

Die teilweise schwierige soziale und emotionale Lage in Ostdeutschland kann bei allem Verständnis keine Entschuldigung sein für neu geschürten Hass. Politisch bleibt die Lage zwischen Ostsee und Erzgebirge und damit rund um Berlin weiterhin labil und volatil, wie gerade die Europa- und Kommunalwahlen gezeigt haben, bei der die in Teilen rechtsextreme AfD und die populistische Bündnis Sahra Wagenknecht in nicht wenigen Regionen zusammen fast auf die Hälfte der Stimmen gekommen sind.

Wie ist der Osten besser zu verstehen? Damit beschäftigt sich unser neuer Tagesspiegel-Newsletter „Im Osten“ mit wöchentlich neuen Hintergrundinformationen, den Sie hier kostenlos abonnieren können. Ist die innere deutsche Einheit überhaupt noch zu erreichen? Darüber habe ich mit dem Soziologen Steffen Mau von der Berliner Humboldt-Universität ausführlich gesprochen. Das Interview über die Identität der Ostdeutschen, geführt mit meinem Kollegen Hans Monath und hier nachzulesen bei Tagesspiegel plus, hat durchaus harte Wahrheiten zutage gefördert. Lesen wir kurz rein:

Herr Mau, wenn wir im Jahr 2089 das 100. Jubiläum der friedlichen Revolution feiern: Wird Deutschland dann immer noch gefühlt geteilt sein?

Ich glaube nicht, dass es in 100 Jahren eine Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse geben wird und alle Ungleichheit getilgt ist. Solche Strukturen sind unglaublich träge und hartnäckig. Schauen Sie, wie solche Unterschiede in anderen Ländern fortleben, etwa zwischen Norditalien und dem Mezzogiorno, zwischen dem Süden und dem Norden der USA. Selbst der bleibende Einfluss der Römer ist in den Regionen, in denen sie lebten oder die sie besetzt hatten, heute noch größer als in anderen Territorien.

Nehmen Sie den Menschen in Ostdeutschland damit nicht auch ein Stück Hoffnung?

Ich möchte nur einen bestimmten Realismus in die Debatte bringen. Also natürlich kann man der Schimäre von der inneren Einheit immer noch hinterherlaufen und allen Leuten in Ost und West versprechen, dass alle Ungleichheiten mittelfristig beseitigt werden. Das ist aber illusionär. Es hat sich in 34 Jahren kein einziges Dax-Unternehmen in Ostdeutschland angesiedelt. Wir haben eine starke Repräsentanz von Menschen aus dem Westen in den ostdeutschen Eliten. Und weiterhin extreme Unterschiede zwischen Ost und West im Hinblick auf Vermögen.

Erbschaften werden in Deutschland viel zu schwach besteuert. Wie soll es denn da zum Abbau dieser innerdeutschen Vermögensmauer kommen? Es gäbe natürlich politische Instrumente, die dem entgegenwirken würden, aber die sind im Westen und damit im ganzen Land politisch nicht mehrheitsfähig. Deshalb muss man sich zu der Erkenntnis durchringen, dass viele Unterschiede bleiben werden. Aber es gibt ja auch Unterschiede zum Westen, auf die der Osten gar nicht verzichten will.

Welche denn?

Ein „Gender Pay Gap“, also die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen, ist im Osten nicht vorhanden, da sollte sich mal eher der Westen anpassen. Es gibt mehr Ganztagsbetreuung für Kinder. Die Theaterdichte ist höher, die Mieten sind niedriger als im Westen. Eine pauschale Angleichung wäre auch für den Osten nicht gut. Niemand in Rostock oder Schwerin wünscht sich Münchner Mieten.

Darin immerhin dürften sich Ost und West und sogar Nord und Süd einig sein: Münchner Mieten will in Deutschland niemand. Berliner Mieten auch nicht.