Wolfgang Thierse im Interview: „Die AfD ist ein Frontalangriff auf die Demokratie“

Der Bürgerrechtler und ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse spricht mit dem Checkpoint über die Wahlergebnisse im Osten, den Aufstieg der AfD sowie die Rolle der SPD. Von Robert Ide.

Wolfgang Thierse im Interview: „Die AfD ist ein Frontalangriff auf die Demokratie“
Foto: imago / epd

Einer, der schon in der DDR für die Demokratie kämpfte, ist der Bürgerrechtler und langjährige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Im Checkpoint-Interview spricht der 80-jährige Sozialdemokrat über die Lehren aus den Wahlen und seine Hoffnungen für die ostdeutsche Gesellschaft.


Herr Thierse, sind Sie erleichtert, dass die SPD noch lebt?

Dass die SPD lebt, wusste ich auch vor der Wahl. In Ostdeutschland hat sie es generell schwer, weil es dort zwei Diktaturen gab, die die Sozialdemokratie zerstört haben. Nach dem Sieg von Dietmar Woidke dürfen wir natürlich etwas erleichtert sein. Aber die AfD hat auch in Brandenburg bei hoher Wahlbeteiligung eine Sperrminorität erreicht, das ist äußerst beunruhigend.

Wie erklären Sie sich, dass gerade junge Leute im Osten die AfD wählen?

Die AfD hat medial und kommunikativ einen dramatischen Einfluss auf die Jugend, insbesondere im Internet. Es hilft nicht, dafür allein den anderen Parteien die Schuld zuzuschieben. Die Parteien haben im Osten wenige Mitglieder, sie sind nicht überall präsent. Ich frage mich eher: Was ist in der Erziehung in Elternhäusern und Schulen schiefgelaufen? Die politische Bildung und die Aufklärung, wie Demokratie funktioniert, hat hier versagt.

Fast die Hälfte der ostdeutschen Wählerinnen und Wähler unterstützten die radikale AfD oder das populistische BSW. Verfestigt sich hier eine Ablehnung der bisher gekannten Politik?

AfD und BSW setzen allein auf Emotionen und schüren Ressentiments. Das wichtigste Ressentiment der AfD ist ihre Ausländerfeindlichkeit. Den politischen Verschiebungen liegen dramatische Veränderungsängste zugrunde. Brandenburg zum Beispiel hat ein größeres Wirtschaftswachstum als Bayern und steigende Einkommen. Aber diese Realität wird von den Leuten nicht wahrgenommen, wenn ihnen übers Internet oder asoziale Kommunikationsmittel permanent mitgeteilt wird: Alles ist furchtbar. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land werden ins Negative aufgebauscht. In der Lausitz schaffen wir Ersatzarbeitsplätze für den Bergbau, aber so etwas dauert eben Jahre. Die Populisten setzen hier auf apokalyptische Kommunikation. AfD und BSW versprechen wahre Wunder, die sie nicht einlösen müssen.

Ist die Bundesregierung von SPD-Kanzler Olaf Scholz nicht längst am Ende?

Alles geht leider im unsäglichen Streit unter, den die FDP immer weitertreibt. Muss die FDP erst minus zehn Prozent der Stimmen bekommen, bevor sie begreift, dass ihre Blockade alles kaputt macht? Was Olaf Scholz betrifft: Wir werden ihn menschlich nicht ändern. Aber ich wünsche mir, dass er die Dramatik und Ernsthaftigkeit der Lage endlich aufgreift, sich dazu erklärt und Menschen sichtbar zeigt, dass er ihre Ängste wahrnimmt.

Die Regierungsbildung in den Ost-Ländern wird jetzt sehr schwer. War die Polarisierung in den Wahlkämpfen ein Fehler?

Diese drei Wahlen sind ein Weckruf für die demokratische Zivilgesellschaft. Und die Wahlkämpfe der Ministerpräsidenten waren eine Antwort auf die Polarisierung, die die AfD betriebt. Die AfD in ihrer jetzigen Verfassung ist ein Frontalangriff auf die Demokratie. Dass man sich dagegen wehrt und wie Dietmar Woidke seine ganze persönliche Autorität einsetzt, finde ich nicht kritikwürdig, sondern gut.

Wie kann die Demokratie im Osten gerettet werden?

Politik muss Probleme schneller lösen und ihre Wege angemessen erläutern und erklären. Die Menschen müssen merken, dass ihre Ängste angenommen und bearbeitet werden. Aber eine Demokratie funktioniert nur Schritt für Schritt. Demokratische Politik darf in diesen sich rasant wandelnden Zeiten keine Wunder ohne Schmerzen versprechen. Das wäre nicht ehrlich.


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