Schriftstellerin Jenny Erpenbeck im Interview
Sie schreibt Geschichten über die deutsche Geschichte und über Menschen, die kaum sichtbar sind oder sich selbst verloren haben. Sie lebt in einer Altbauwohnung in Mitte, in der sich Erinnerungen und Bücher stapeln. Sie ist die derzeit beste deutsche Literatin, vor einer Woche in London geehrt mit dem renommierten International Booker Prize. Jenny Erpenbeck empfängt gut gelaunt zum Gespräch, das am Wochenende im Tagesspiegel nachzulesen sein wird. Einen Auszug für den Checkpoint hat sie heute Nacht schon freigegeben. Denn die 57-Jährige aus einer Ost-Berliner Schriftstellerfamilie hat einiges zu sagen zu ihrer Heimatstadt und zum Erbe der deutschen Einheit.
Frau Erpenbeck, wann ist Ihnen aufgefallen, dass eine neue Zeit beginnt?
Bei meiner ersten Mieterhöhung. In der DDR habe ich 40 Mark 25 für meine zwei Zimmer bezahlt, ein Jahr später schon 400. Das war mein erster Moment von Panik. Inzwischen ist es noch viel extremer. Ich halte es für ein zentrales Problem, dass Berliner in ihrer eigenen Stadt keine bezahlbare Wohnung mehr finden.
Aber von 40 Mark 25 kann man kein Haus instandhalten. So sahen die Innenstädte der DDR auch aus.
Das stimmt. Aber es gab immerhin ein staatliches Wohnungsbauprogramm, das die Wohnungsfrage als soziales Problem lösen wollte. Das ist ein ganz anderer Ansatz. Wilhelm Busch hat einmal gesagt: Mit einer Wohnung kann man einen Menschen genauso erschlagen wie mit einer Axt.
Trauern Sie der DDR nach?
Nein. Aber auch Freiheit zieht Zwänge nach sich. Dem Konkurrenzkampf, der zur Existenzerhaltung notwendig ist, ist nicht jeder Mensch gewachsen. Und in mancher Hinsicht ist die Freiheit auch eine Gummiwand. Man kann zwar alles sagen, aber es bewirkt oft nichts mehr. Es gibt die viel gerühmte Bürgerbeteiligung, trotzdem wird am Ende oft das gemacht, was am billigsten ist.
Was fehlt Ihnen im vereinten Berlin?
Die Grauzonen, die Baulücken, die struppigen Wiesen. Es gibt kaum noch undefinierte Räume. Am Mauerpark soll das Jahnstadion neu gebaut werden, obwohl das alte DDR-Stadion noch ganz gut aussieht und überall Geld fehlt. Da denke ich: Finanziert doch lieber ein paar mehr Frauenhäuser! Und ich vermisse, auch bei mir selbst, meinen Berliner Dialekt. Wenn ich alte Freunde treffe, fangen wir wie selbstverständlich wieder an zu berlinern. In der DDR haben ja auch die Intellektuellen Mundart gesprochen, die Standesunterschiede waren in der Sprache aufgehoben. Dieser Klangraum verschwindet. Wir beide reden jetzt hier auch Hochdeutsch, obwohl wir das nicht müssten.
Wat wär so jut am Berlinern?
Dialekte gibt es ja überall. Das Besondere am Berlinern oder am Sächseln aber ist, dass die Zeit, in der wir alle so gesprochen haben, versunken ist. Wir haben sie gemeinsam verloren.